Die Krüger-Depesche von 1896
Nachdem die Buren unter Paulus (Oom, Ohm) KRÜGER im Dezember 1895 erfolgreich den Angriff des britischen Abenteurers Dr. JAMESON auf Transvaal abgeschlagen hatten, sandte Kaiser WILHELM II. am 3. Januar 1896 die »Krüger-Depesche« an den Burenpräsidenten, in der er ihm und den Buren zu dem Sieg gratulierte.[1] Das Telegramm, das in England eine starke deutschfeindliche Stimmung auslöste und die deutsch-britischen Beziehungen für die Folgezeit schwer belastete, wird in den Geschichtsbüchern meist als impulsive und auf ihre Folgen hin unbedachte Tat des >jungen< Kaisers hingestellt oder sogar als Mittel seiner Minister, ihn von noch aggressiverem Vorgehen gegen London abzuhalten. So schreibt VALENTIN: »Es gelang den Beratern, ihren kaiserlichen Herrn zu beschwichtigen und seinen Tatendrang auf die Absendung einer Glückwunschdepesche an den Präsidenten von Transvaal, Paul KRÜGER, zu beschränken.«[2]
Doch das ist falsch, und die damit bewirkte Herabsetzung des letzten deutschen Kaisers ist unberechtigt. Das Gegenteil ist eher richtig. Kaiser WILHELM wollte die Depesche nicht absendend, da er ihre Folgen aus seiner guten Kenntnis der Engländer richtig voraussah. Er schreibt persönlich zur Vorgeschichte und zum Zustandekommen der Depesche folgendes: »Der JAMESON-Einfall hatte in Deutschland eine große, sich steigernde Erregung ausgelöst. Das deutsche Volk empörte sich über diesen Versuch der Vergewaltigung einer kleinen Nation, deren Ursprung niederländisch, also auch niedersächsisch-deutsch ist und die aus völkisch-verwandtschaftlichen Gründen Sympathie bei uns genoß. Mir machte diese heftige Erregung, die auch die höheren Kreise der Gesellschaft ergriff, wegen etwaiger Verwicklungen mit England große Sorge. …

Als ich mich eines Tages zu einer Besprechung bei meinem Oheim, dem Reichskanzler, befand, bei der der Staatsekretär des Reichsmarineamtes Admiral HOLLMANN zugegen war, erschien plötzlich in erregter Stimmung der Staatsekretär (im Auswärtigen Amt, R. K.) Freiherr MARSCHALL mit einem Blatt Papier in der Hand. Er erklärte, die Erregung im Volke, ja auch im Reichstag sei so gewachsen, daß es unumgänglich nötig sei, ihr nach außen hin Ausdruck zu geben. Das geschehe am besten durch ein Telegramm an KRÜGER, zu dem er den Entwurf in der Hand hielt. Ich sprach mich dagegen aus und wurde darin von Admiral HOLLMANN unterstützt. Der Reichskanzler verhielt sich bei dieser Debatte zunächst passiv. Da ich die Unkenntnis der englischen Volkspsyche seitens des Auswärtigen Amtes und des Freiherrn MARSCHALL kannte, versuchte ich, diesem die Folgen, die ein solcher Schritt im englischen Volk auslösen werde, klar zu machen; auch hierbei sekundierte mir Admiral HOLLMANN. MARSCHALL war aber nicht zu überzeugen.

Da endlich ergriff der Reichskanzler das Wort und bemerkte, daß ich mich als konstitutioneller Herrscher nicht in Gegensatz zum Volksbewußtsein und zu meinen verfassungsmäßigen Ratgebern stellen dürfe. Sonst drohe die Gefahr, daß die sehr erregte Stimmung des in seinem Gerechtigkeitsgefühl — auch seinem Mitgefühl für die Niederlande — stark betroffenen deutschen Volkes über die Ufer schlagen und sich auch gegen mich persönlich wenden werde. Schon jetzt seien Bemerkungen im Volke im Umlauf: Der Kaiser sei ja doch ein halber Engländer und habe heimliche englische Sympathien, er stehe ganz unter dem Einfluß seiner Großmutter, der Königin VICTORIA, die >Onkelei< aus England müsse endlich aufhören, der Kaiser müsse aus der englischen Vormundschaft heraus usw. Daher müsse er, der Reichskanzler, wenn er auch die Berechtigung meiner Einwürfe nicht verkenne, aus allgemeinem politischen Interesse, wie vor allem im Interesse meines Verhältnisses zu meinem Volk, darauf bestehen, daß ich das Telegramm unterzeichne. Er wie Herr V. MARSCHALL als meine verfassungsmäßigen Berater übernähmen für das Telegramm und seine Konsequenzen die volle Verantwortung.

Admiral HOLLMANN, vom Reichskanzler ersucht, seinen Standpunkt zu teilen und auch seinerseits mir gegenüber zu vertreten, lehnte dies mit dem Bemerken ab, daß die angelsächsische Welt unbedingt den Kaiser mit dem Telegramm belasten werde, da man Seiner Majestät älterem Berater eine solche Provokation niemals zutraue, sondern sie als eine >impulsive< Handlung des >jugendlichen< Kaisers deuten werde.
Darauf versuchte auch ich nochmals, die Herren von ihrem Plan abzubringen. Der Reichskanzler und MARSCHALL bestanden aber darauf, daß ich unterzeichne, unter Betonung ihrer Verantwortlichkeit für die Folgen. Diesen Vorstellungen glaubte ich mich nicht versagen zu sollen. Ich unterschrieb.«
Der Kaiser fügte hinzu: »Den ganzen Vorgang hat mir Admiral HOLLMANN nicht lange vor seinem Tode noch einmal mit allen Details, wie er hier geschildert ist, ins Gedächtnis zurückgerufen.«
Zur weiteren Bestätigung der Richtigkeit dieses Ablaufes führte WILHELM II. noch an: »In einer Veröffentlichung des damaligen Vertreters der Times, Sir Valentine CHIROL, in den Times vom 11. Sept. 1920 erzählt dieser, daß Herr V. MARSCHALL ihm unmittelbar nach Absendung der Depesche erklärt habe, die Depesche gäbe nicht die persönliche Auffassung des Kaisers wieder, sie sei eine >Staats-Aktion<, für die der Kanzler und er selbst die volle Verantwortung trügen.«
Über die Folgen hielt der Kaiser fest: »Nach der Veröffentlichung der Krügerdepesche ging der Sturm in England los, wie ich es vorausgesagt hatte. … Angriffe und Verleumdungen seitens der Presse setzten ein, und bald war die Legende von der Entstehung der Depesche (als vom Kaiser angeregt, R. K.) so feststehend wie das Amen in der Kirche. Hätte MARSCHALL seine zu CHIROL geäußerte Darlegung des wirklichen Sachverhalts (über die Entstehung der KRÜGER-Depesche, R. K.) auch im Reichstag kundgegeben, dann wäre ich persönlich nicht in solchem Maße in die Sache hineingezogen worden.«[3]
Die Verantwortung für die KRÜGER-Depesche und ihre Folgen, die bis heute dem Kaiser angelastet werden, hatte also nicht dieser, sondern seine Berater traf die Schuld an diesem Vorgang.
Rolf Kosiek
[1] Der Wortlaut des Telegramms ist: »Ich spreche Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch aus, daß es Ihnen, ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren, mit Ihrem Volke gelungen ist, aus eigener Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen, welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen sind, den Frieden wiederherzustellen und die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu bewahren.«
[2] Z. B. Veit VALENTIN, Geschichte derDeutschen, Kiepen-heuer & Witsch, Köln 1979, S. 490 f.; ähnlich in: Emil FRANZEL, Geschichte des deutschen Volkes, Adam Kraft, München 1974, S. 739.
[3] WILHELM II., Ereignisse und Gestalten 1878-1918, K. F. Koehler, Leipzig 1922, S. 69 ff.
Quelle: Der Große Wendig 4, Nr. 728 (Download)
Eine Antwort auf „Depesche, nicht die Emser“
[…] Krügerdepesche war nur die logische Folge, die „Master Race“ war […]