Pogrome in Rußland
Im Rahmen der Umerziehung der Deutschen wird in der Öffentlichkeit oft der Eindruck erweckt, daß der Antisemitismus für Deutschland typisch und am frühesten festzustellen gewesen sei. Dazu dient auch das geflügelte Wort: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.« Doch das ist so nicht richtig. In Wirklichkeit war das Deutsche Reich — mindestens bis zum Ende der Weimarer Republik in den frühen dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts — vorwiegend judenfreundlich eingestellt. Das gilt für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung wie für die Reichsregierungen. Noch nach 1918 gab es unverhältnismäßig viele Juden unter den Reichstagsabgeordneten sowie unter den Ministern. Matthias ERZBERGER und Walther RATHENAU gehörten dazu wie ebenso Hugo PREUSS, der im Jahre 1919 Reichsinnenminister und im wesentlichen Schöpfer der Weimarer Reichsverfassung war. Nicht von ungefähr wanderten bis 1938 Hunderttausende von Juden aus dem Osten in das Reich ein.[1]
In anderen Ländern wurden sie dagegen seit dem 19. Jahrhundert schwer verfolgt, insbesondere in den Staaten Osteuropas. Der in den USA und Israel lehrende Antisemitismusforscher Robert S. WISTRICH weist auf diese Tatsache hin, wenn er feststellt: Der Holocaust war »ein paneuropäisches Ereignis, zu dem es nicht hätte kommen können, wenn nicht in den späten dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Millionen von Europäern ein Ende der uralten jüdischen Präsenz in ihrer Mitte hätten sehen wollen. Besonders stark ausgeprägt war dieser Konsens in den Ländern des östlichen Zentraleuropa, wo die Mehrzahl der Juden lebte und noch ihre nationalen Besonderheiten und ihre kulturellen Eigenarten bewahrt hatte«.[2]
Das zeigt auch das Ergebnis der von ROOSEVELT angeregten Konferenz zur Judenfrage von Evian im Juli 1938:[3] Die Ost- und Mitteleuropäer wollten ihre Juden abschieben, aber kein westlicher Staat wollte die Flüchtlinge aus dem Osten und aus Mitteleuropa aufnehmen. Es kam zu keiner friedlichen Lösung dieses Problems. Bezeichnend ist, daß der Ort Evian-les-Bains am Südufer des Genfer Sees zwar im zwölfbändigen Großen Brockhaus von 1952 (3. Bd., S. 724) mit einigen Angaben aufgeführt, diese wichtige Konferenz aber nicht erwähnt wird. Dasselbe gilt für den achtbändigen Großen Duden von 1965 (2. Bd., S. 803).
Nach früheren Pogromen, die im Mittelalter auch in Mittel- und Westeuropa stattgefunden hatten, machte sich der Antisemitismus vor allem im 19. Jahrhundert im russischen Reich bemerkbar.
Bedrückend ist eine Liste der größeren Pogrome, die in Rußland stattfanden und Tausenden von Juden das Leben kosteten. Vor diesen Massakern flüchteten viele Betroffene nach Deutschland oder nach Österreich, wo sie in Berlin und Wien seit Beginn des 20. Jahrhunderts rasch stark anwachsende Minderheiten bildeten, die wegen ihres Ausmaßes auffielen.

Eine Aufstellung der größeren russischen Pogrome bringt MEISER:[4]
- 1859 Pogrome in ganz Rußland. 1871 Pogrome in Odessa.
- 1881 In Kiew werden 792 Juden ermordet.
- 1881 Pogrome im ukrainischen Elisabethgrad.
- 1882 Pogrom im ukrainischen Balta.
- 1883 Pogrom in Rostow.
- 1891 Vertreibung von Juden aus Moskau, 20 Morde in Lodz.
- 1903 Pogrom in Gomel und Kischinew an der Moldau.
- 1905 Pogrome in 700 russischen (darunter ukrainischen und polnischen) Städten.
- 1917-1921 Pogrome in mehr als 1200 Orten Rußlands und der Ukraine mit mehr als 30 000 Op-fern.
- 1917 Besonders grausame Pogrome in Kalusz/Galizien.
- 1919 Pogrome in Proskunow mit 1500 ermordeten Juden.
- 1919-1921 Mehr als 100 Pogrome der ukrainischen Nationalarmee mit rund 60 000 jüdischen Opfern.
Ein ähnlich starker Antisemitismus herrschte in der Zwischenkriegszeit in dem 1919 wieder selbständig gewordenen Polen, das seine rund drei Millionen Juden unbedingt loswerden wollte. Einzelheiten dazu sind bereits angegeben worden.[5]

Keines dieser Pogrome hat ein Gegenstück im Deutschen Reich oder in Österreich vor 1938, als die zu verurteilende, bezüglich ihrer Auftraggeber noch ungeklärte >Kristallnacht< erstmalig in Deutschland Todesopfer forderte, deren Zahl aber mit der der Opfer in den osteuropäischen Verfolgungen nicht zu vergleichen ist.
Es ist daher einseitig, nur in den Deutschen die geborenen Antisemiten zu sehen, wie es zum Beispiel Daniel GOLDHAGEN in seinem in der Bundesrepublik dennoch gefeierten Werk[6] versucht, das Norman G. FINKELSTEIN mit Recht deswegen kritisiert.[7]
Rolf Kosiek
[1] ‚Siehe: Artikel Nr. 732, »Antisemitismus im Kaiserreich?«, Bd. 4, S. 434-439, und Nr. 768, »Das Schicksal der Juden in der Sowjetunion«, Bd. 4, S. 211-216.
[2] Robert S. WISTRICH, Hitler und der Holocaust, Berlin 2003, S. 16 f.
[3] Siehe Beitrag Nr. 118, »Die Evian-Konferenz vom Juli 1938«, Bd. 1, S. 499 ff.
[4] Hans MEISER, Völkermorde vom Altertum bis zur Gegenwart, Grabert, Tübingen 2009, S. 261 f.
[5] Siehe Beiträge Nr. 128, »Judenpogrome im Polen der Zwischenkriegszeit«, Bd. 1, S. 537-540 und Nr. 129, »Zur Lage der Juden in Polen vor 1942«, Bd. 1, S. 541 £
[6] Daniel GOLDHAGEN, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996.
[7] Norman G. FINKELSTEIN, Die Hqlocaust-Industrie, Piper, München—Zürich 2000.
[3] Siehe Beitrag Nr. 837, »Der Massenmord von Swinemünde«, Bd. 4, S. 509-513.
Quelle: Der Große Wendig 4, Nr. 731 (Download)