Zu Wilhelms II. >provokatorischen< Reisen
In der Medienöffentlichkeit wird immer wieder versucht, den letzten deutschen Kaiser, WILHELM II., unberechtigt herabzusetzen, ihm »Säbelrasseln« zu unterstellen und ihm einen »Hurra-Patriotismus« anzuhän-gen, der dann zum Ersten Weltkrieg geführt habe. Das geschah besonders zu den runden Jubiläen seines Lebens, etwa zum 50. Jahrestag seines Todes, dem 4. Juni 1991. Besonders in England wird der älteste Enkel der Queen VICTORIA noch immer in der Fortsetzung der britischen Kriegspropaganda als >Monster< angesehen, das belgischen Kindern die Hände abhackte.
Zu den dem Monarchen vorgeworfenen angeblichen politischen Fehlern und Mißgriffen, die auf seine Abwertung abzielen, gehören auch bestimmte Reisen, die er unternahm, allerdings gegen seinen Willen und auf Druck des Reichskanzlers. Deswegen sind sie ihm nicht anzulasten. Der Kaiser hat selbst dazu später Stellung genommen.
1. Die Tangerreise 1905. Im Jahre 1905 kam es zur folgenreichen Reise Kaiser WILHELMS II. nach Tanger. Diese wird dem Kaiser oft als ein persönlicher politischer Fehler vorgeworfen, der das deutsche Ver-hältnis zu Frankreich und England nachhaltig belastet und beinahe zu einem Krieg geführt habe.
Doch dieser Besuch Tangers erfolgte gegen den Willen des Kaisers aufgrund der Forderung seines Reichskanzlers. WILHELM II. schrieb darüber in seinen Erinnerungen:
»Ende März beabsichtigte ich, wie im Vorjahre, zur Erholung eine Mit-telmeerreise zu unternehmen. . . Bald nach dem Bekanntwerden des Reise-projekts teilte mir BüLow (Bernhard Fürst von B. (1849-1929), der damals amtierende Reichskanzler, R. K.) mit, man habe in Lissabon den lebhaften Wunsch, ich möchte dort Aufenthalt nehmen und dem Hof einen Besuch machen. Ich war damit einverstanden. Als der Zeitpunkt der Abreise sich näherte, trat Bütow mit dem weiteren Wunsche hervor, ich möchte auch Tanger anlaufen und durch den Besuch des marokkanischen Hafens die Stellung des Sultans Frankreich gegenüber stärken. Ich lehnte das ab, weil mir die Marokkofrage zu viel Zündstoff zu enthalten schien und weil ich fürchtete, daß mein Besuch eher schädlich als nützlich wirken würde. BÜLOW aber kam immer wieder darauf zurück, ohne mich von der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit des Besuches überzeugen zu können.
Auf der Fahrt hatte ich mit Freiherrn V. SCHÖN, der mich als Vertreter des Auswärtigen Amtes begleitete, mehrere Besprechungen über die Opportunität des Besuches. Wir kamen darin überein, daß es besser sei, ihn zu unterlassen. Von Lissabon aus teilte ich diesen Entschluß dem Kanzler telegraphisch mit. BüLow antwortete mit der nachdrücklichen Forderung, daß ich der Meinung des deutschen Volkes und des Reichstages, die sich nun einmal für einen solchen Schritt erwärmt hätten, Rechnung tragen müsse, es sei notwendig, daß ich nach Tanger führe.

Schweren Herzens gab ich nach, denn ich befürchtete, daß dieser Besuch bei der Lage der Dinge in Paris als Provokation aufgefaßt werden könnte und in London die Geneigtheit zur Unterstützung Frankreichs im Kriegsfalle bewirken würde.«
Nach dem dann doch erfolgten Besuch in Tanger mit ungünstigen Abläufen entwickelten sich die Ereignisse so, wie der Kaiser geahnt hatte: »Was ich vorausgesehen, wurde durch die Tatsachen bestätigt. In Paris herrschten Erbitterung und Wut. Drs cAssü, (Theophile D., damaliger französischer Außenminister, 1852-1923, R. K.) versuchte, zum Krieg zu hetzen; er drang nur deshalb nicht durch, weil sowohl der Marineminister wie der Kriegminister erklärten, Frankreich sei noch nicht bereit. Die Richtigkeit meiner Befürchtungen ist späterhin auch durch das Gespräch DELcAssüs mit dem Redakteur des Gaulois bestätigt worden, in dem der Minister der erstaunten Welt mitteilte, daß im Kriegsfalle Eng-land auf Frankreichs Seite getreten sein würde.«[1] Wie später herauskam, hatte London Frankreich angeboten, »100000 Mann in Holstein zu landen und den Kaiser-Wilhelm-Kanal zu besetzen«.[2]
Und der Kaiser bemerkte anschließend noch: »So wäre ich durch den mir aufgenötigten Besuch in Tanger schon damals beinahe in die Lage gekommen, der Entfesselung eines Weltizrieges beschuldigt werden zu können. Konstitutionelles Denken und Handeln ist für den Fürsten, dem schließlich immer die Verantwortung aufgebürdet wird, oft eine harte Aufgabe.«[3]

2. Die Nordlandreise 1914.
Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo am 28. Juni 1914 wollte Kaiser WILHELM II. seine geplante Nordlandreise aufgeben und wegen der unsicheren Lage in Berlin bleiben. Sein Kanzler drängte ihn aber zu der Reise, die der Kaiser dann gezwungenermaßen unternahm. Daraufhin wurde WILHELM II. persönlich vorgeworfen, in entscheidungsreicher Zeit nicht am Regierungssitz gewesen zu sein.
WILHELM II schrieb darüber in seinen Erinnerungen: »In tiefer Sorge um die Wendung, die die Dinge nehmen konnten, beschloß ich nun, meine geplante Nordlandreise aufzugeben und zu Haus zu bleiben. Der Reichskanzler und das Auswärtige Amt waren der entgegengesetzten Auffassung und wünschten gerade, ich solle die Reise ausführen, weil das auf ganz Europa eine beruhigende Wirkung ausüben werde. Ich habe mich lange dagegen gesträubt, angesichts der unsicheren Zukunft mein Land zu verlassen. Aber der Reichskanzler V. BETHMANN erklärte mir kurz und bündig, wenn ich den nun einmal schon bekannten Reiseplan jetzt noch aufgeben würde, so werde das dazu führen, die Lage ernster erscheinen zu lassen, als sie bisher sei, und möglicherweise zum Ausbruch des Krieges beitragen, für den ich dann verantwortlich gemacht werden könne. Alle Welt warte nur auf die erlösende Nachricht, daß ich trotz der Lage ruhig auf Reisen gegangen sei. Ich konferierte mit dem Chef des Generalstabes darüber; als auch dieser eine ruhige Auffassung der Lage zeigte und selbst um Sommerurlaub nach Karlsbad bat, entschloß ich mich schweren Herzens abzufahren.«[4]
Im Jahre 1913 konnte der Kaiser den 25. Jahrestag seiner Thronbesteigung feiern, ohne bis dahin in einen Krieg verwickelt worden zu sein oder nach einem solchen getrachtet zu haben. Er war in Wirklichkeit ein echter >Friedenskaiser<, in dessen Regierungszeit das Deutsche Reich zu einem Vorbild im Sozialwesen, in der modernen Wirtschaft und in dem Bildungswesen wurde. »Auf je 10000 Rekruten fielen 1913 im Deutschen Reich 2 Analphabeten (England:100, Frankreich: 320). Ausgaben für das Schulwesen im Reich 1913: 878 Mio. (England 384, Frankreich: 261). 1912 kamen im Reich 35 000 neue Bücher auf den Markt (England: 12100, Frankreich: 9600). 16 Nobelpreise gingen von 1901 bis 1915 an Wissenschaftler aus dem Deutschen Reich (5 an englische, 6 an französische).«[5]


Dagegen blieb das Reich in der Rüstung hinter seinen Nachbarn zurück: »Die russische Heeresvermehrung zwischen 1905 und 1914 betrug 431 000 Mann, die französische 235 000 Mann, die reichsdeutsche 139 000 Mann. . . Flottenausgaben damaliger (Staaten, R. K.) im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Jahresdurchschnitt pro Kopf in Goldmark): England 17, 8, Frankreich 8,07, USA 5,86, Deutsches Reich 5,82.«[6]
Rolf Kosiek
[1] WILHELM Ereignisse und Gestalten 1878—1918, F. K. Koehler, Leipzig, 1922, S. 90 f.
[2] Ebenda, S. 92.
[3] Ebenda, S. 91.
[4] Ebenda, S. 209.
[5] »Wilhelm II. als >Monstrum«< in: Deutsche Wochenzeitung, 21. 6. 1991.
[6] Ebenda.
[3] Siehe Beitrag Nr. 837, »Der Massenmord von Swinemünde«, Bd. 4, S. 509-513.
Quelle: Der Große Wendig 4, Nr. 733 (Download)