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Tabula Rasa

Frieden und Tabula Rasa

Ein Friedensvertrag soll einen Krieg abschließen und für die Zukunft Frieden zwischen vorher verfeindeten Parteien oder Ländern brin­gen. Unter diesem Gesichtspunkt war das Versailler Diktat von 1919 kein Friedensvertrag, sondern nur die Unterbrechung eines Krieges, wie hellsichtig bei seinem Abschluß schon viele Zeitgenossen erkannten. So erklärte Georges CLEMENCEAU: »Die Friedenskonferenz ist eine Fortset­zung des Krieges.«[1] Der französische Diplomat Paul CAMBON schrieb: »Mir kommt er (der >Friede< von Versailles, R. K.) vor wie ein Haufen Sprengkörper, die eines Tages in allen Teilen der Welt losgehen.«[2] Und die frühere französische Kaiserin EUGENIE, die Witwe NAPOLFONS III., meinte: »In jedem Artikel dieses Friedensvertrages sehe ich ein kleines Ei, eine Keimzelle weiterer Kriege.«[3]

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lage für Deutschland bis zur Stunde noch schlimmer: Es gab und gibt überhaupt keinen Friedensver­trag. Der 2+4-Vertrag von 1990 ist schon rein formal kein Friedensver­trag, soll einen solchen nach herrschender Meinung jedoch ersetzen. Er gibt auch nicht die volle Souveränität an die Bundesrepublik zurück.

Unterzeichnung des Friedens von Frankfurt am Main am 10. Mai 1871 im Hotel Schwan. Die Delegationsleiter Frankreichs und Deutschlands waren Jules FAVRE und Otto VON BISMARCK. Das besiegte Frankreich mußte weite Teile von Elsaß und Lothringen wieder herausgeben und eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Goldfranken zahlen. Zu einer Kriminalisierung des besiegten Volkes wie des deutschen ab 1918 kam es nicht. Holzschnitt aus der Leipziger Illustrierten Zeitung vom 3.6.1871.

Mit dem Versailler Frieden setzte für Europa eine längst überwunden geglaubte ungünstige Entwicklung ein, die bewußte Abkehr von einer seit Jahrhunderten entwickelten Kunst des Friedenmachens. Der Rückfall in barbari­sche Zeiten hatte seinen Vorläufer im ame­rikanischen Bürgerkrieg, an dessen Ende die Südstaaten bedingungslos kapitulieren mußten und einen grausamen Gewaltfrie­den aufgezwungen bekamen.

Demgegenüber hatten die europäischen Mächte mit ihrer sonstigen Kultur in der Neuzeit eine hohe Kunst des Friedenschließens entwickelt, die späte­stens seit der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und seit dem Frieden von Münster und Osnabrück vom Jahre 1648 galt. Sie hatte in den Friedens­verhandlungen etwa von Wien 1815 oder Frankfurt 1871 segensreiche Auswirkungen und ermöglichte jahrzehntelange Friedenszeiten. Hier wurde jeweils ein Schlußstrich unter einen Krieg gezogen, so daß beide Gegner damit leben konnten.

Friedrich GRIMM. Ei­nes seiner bekannte­sten Bücher ist: Politi­sche Justiz. Die Krankheit unserer Zeit, Bonn 1953.

Der bekannte Strafverteidiger und Völkerrechter Professor Dr. Fried­rich GRIMM hat bereits im Jahre 1953 die Gefahren aus diesem Vorgang von 1945 für das europäische Recht erkannt[4] Er schrieb: »Das Erschreckendste aber an der heutigen Lage ist, daß es bis jetzt, acht Jahre nach Beendigung des furchtbarsten Kriegs, den die Menschheit erlebt hat, immer noch nicht gelungen ist, den Schlußstrich zu ziehen, der, seitdem die westliche Welt zu rechtsstaatlichem Denken gelangt ist, noch nach jedem Krieg die politische Justiz für alle Handlungen beendet hat, die irgendwie mit dem Krieg in ursächlichem Zusammenhang standen.«

Das gelte vor allem für die Abstrafung von »Kriegsverbrechern«: »Die sogenannte Kriegsverbrecherverfolgung, durch die man zum ersten Mal in Versailles mit einer jahrhundertealten Rechtsübung brach, ist die schlimmste Entartungserscheinung politischer Justiz. Sie ist es, die die gesamte Rechtsordnung unseres Kontinents bedroht.« Und der Jurist weist darauf hin, daß BISMARCK 1871 Forderungen abgelehnt habe, NAPOLEON III. und den Herzog VON GRAMONT als leichtfertige Urheber des Deutsch­französischen Krieges unter Anklage zu stellen. Dafür sei eine höhere Gerechtigkeit zuständig.«[5]

GRIMM erhebt als weitsichtiger Jurist zu Recht die Forderung: »Wir müssen uns wieder darauf besinnen, daß es seit Hugo GROTIUS, dem Be­gründer des modernen Völkerrechts, und seit dem Westfälischen Frieden einen obersten Grundsatz des Völkerrechts gibt, den man das tabula-rasa­Prinzip nennt und der besagt, daß nach jedem Krieg tabula rasa — reiner Tisch — gemacht werden, daß man einen Schlußstrich unter alle Vorgän­ge ziehen muß, die mit dem Krieg zusammenhängen, so schrecklich sie auch sein mögen, und daß das nur durch eine Generalamnestie möglich ist, die ein wesentlicher Bestandteil jedes Friedens ist.

Makabrer Humor: Raymond POINCARE verspeist Kinder aus dem Ruhrgebiet. Deutsches Anklageplakat gegen eine französische Karikatur. Im Juni 1922 äußerte der französische Staatspräsident: »Mir würde es wehe tun, wenn Deutschland zahlte. Ich ziehe die Besetzung und die Eroberung dem Geldeinstreichen und den Reparationen vor.« Auf der internationalen Konferenz von Genua (10.-19. 4. 1922) versuchte Frankreich, Rußland zu Reparationsforderungen gegenüber Deutschland aufzustacheln.
Franzosen am Rhein. Ende 1922 hatten die Franzo­sen dem Deutschen Reich vorgeworfen, zu wenig Telegraphen- und Holzstangen abgeliefert zu haben. Ein deutsches Ersatzangebot wurde abgelehnt. Dar­aufhin stellte die alliierte Reparationskommission eine deutsche Verletzung des Friedensvertrags fest!

Der Mann auf der Straße hat dies längst erkannt. Er will von Kriegsverbrecherprozes­sen nichts mehr wissen. Er sagt: >Schluß da­mit!< und weiß gar nicht, daß er damit einen Rechtssatz ausspricht, der seit Jahrhunderten internationale Geltung hat.«[6]

Wegen seiner Bedeutung kommt GRIMM noch einmal ausführlich auf dieses Prinzip und die Notwendigkeit seiner Anwendung zurück: »Tabula rasa! Das ist eine alte Weis­heit, die nur in der Wirrnis unserer Zeit ver­lorenging, auf die die Völker sich aber wie­der besinnen müssen. Sie müssen wieder erkennen, daß es Amnestien gibt, die Rechtsamnestien sind, keine einfachen Gna­denakte, Rechtsamnestien, auf die die Völ­ker einen Anspruch haben, der nicht auf dem Paragraphenrecht beruht, sondern der ein Recht höherer Art ist, ob man das nun Na­turrecht oder etwa ein völkerrechtliches Po­stulat nennt. Es besagt, daß nach Krieg und inneren Umwälzungen, wenn die gewöhnli­chen Rechtsmittel versagen, der Staat oder die Staaten zu außergewöhnlichen Rechtsmit­teln greifen müssen, um dem Recht im hö­heren Sinne, der höheren Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Wir müssen die Diskus­sion um die sogenannten Kriegsverbrecher auf eine höhere Warte heben, ein höheres Ni­veau, aus dem Streit der Paragraphen und des positiven Rechts auf die höhere Ebene des Naturrechts und des ungeschriebenen Rechts: Das führt zu der Erkenntnis, daß eine allge­meine Befriedigungsamnestie eine unabding­bare, notwendige, selbstverständliche Klau­sel jedes Friedensvertrages ist.«[7]

GRIMM zieht auch schon 1953 die notwen­dige praktische Folgerung daraus: »Die Ge­richte und Staatsanwaltschaften müssen also meines Erachtens schon heute die Einleitung und Durchführung von Straf­verfahren wegen Kriegsverbrechens ablehnen. Die Verfahren sind einzu­stellen. . . Die Befriedung der Menschen und die Notwendigkeit des Zusammenlebens ist das höhere Rechtsgut, vor dem der Sühnegedanke zurückzutreten hat.«[8]

Kurt SCHRIMM in seiner >Zentral­stelle<.

Doch Glimm wurde nicht gehört: Statt einer Amnestie wurden die einschlägigen Verjährungszeiten, die auch dem Rechtsfrieden dienen, immer wieder vom Bundestag verlängert und dann ganz aufgehoben. Bundesjustizminister Ewald BUCHER trat wegen dieses Rechtsbruchs 1966 zurück. Eine Zentralstelle der Justizverwaltungen der Länder zur Verfol­gung von NS-Verbrechen, besetzt mit vielen Staatsanwälten und Zuar­beitern, wurde in Ludwigsburg gegründet, die noch heute Ermittlungen zur Aufdeckung von NS-Tätern anstellt, während alle Alliierten sofort nach Kriegsende für ihre Angehörigen eine Amnestie für Kriegsverbre­chen erließen. Der derzeitige Chef der Zentralstelle, der leitende Ober­staatsanwalt Kurt SCHRIMM, erklärte anläßlich des DEMJANJUK-Prozesses 2009: »Wir selbst hier in Ludwigsburg haben noch einiges vor. Es gibt Quellen, deren Inhalt wir überhaupt noch nicht kennen. … Anläßlich einer Dienstreise nach Brasilien erst vor wenigen Monaten haben wir erfahren, daß in Brasilien noch Archive existieren, die sehr vielversprechend sind.«8 Noch bis zur Gegenwart, mehr als 65 Jahre nach Ende des Krieges, laufen Kriegsverbrecherprozesse, gibt es keinen Frieden, haben die deutschen Po­litiker sich zu keiner allgemeinen Amnestie durchgerungen. Vor allem auch deswegen ist das Volks- und Staatsbewußtsein inzwischen so stark zerstört worden und das deutsche Volk in der geistigen Todesspirale gefangen.

GRIMM schloß noch eine Feststellung an, die auch gegenwärtig aktuel­ler denn je ist: »Wir leiden heute an einer Überspannung des Sühne­gedankens. Wenn wir alle wie Shylock handeln wollten oder wenn der Grundsatz: Auge um Auge, Zahn um Zahn! ewig Geltung haben sollte, würde die Menschheit zu­grunde gehen. Wir wollen ge­wiß den Sühnegedanken nicht bagatellisieren. Auch die Süh­ne ist ein Rechtsprinzip. Sie ist sogar eine der Grundlagen des Rechtsstaates überhaupt. Aber es gibt kein Rechtsprinzip, das überspannt werden dürfte.«[9]

Iwan (John) DEMJANJUK wurde 2009/2010 in München der Prozeß gemacht. Er war be­reits vor Jahrzehnten in Israel zum Tode verurteilt worden, doch dann kamen Zweifel auf, und er wurde freigelassen.

Dessen sollten sich vor al­lem die führenden Juristen der Bundesrepublik erinnern und danach handeln.

Reiterstandbild FRIEDRICHS DES GROSSEN 1851 von links Graf VON FINCKENSTEIN SCHLABRENDORF, Graf VON CARMER mit Buch, GRAUN mit Notenrolle, LESSING und Immanuel KANT.

Der Philosoph Immanuel KANT schrieb in seiner Ab­handlung Zum ewigen Frieden[10] einleitend als Abschnitt 1: »Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Krieg gemacht worden.« Und er führt als Begründung an: »Denn alsdenn wäre er ja ein bloßer Waffen­stillstand, Aufschub der Feindseligkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hostilitäten bedeutet, und dem das Beiwort ewig anzuhängen ein schon verdächtiger Pleonasm ist.« Dagegen wurde sowohl in Versailles und St. Germain als auch nach 1945 von den Alliierten verstoßen, was statt des von den Siegern 1945 versprochenen ewigen Friedens weitere Kriege zur Folge hatte.

Rolf Kosiek

In seinem herausragenden Aufsatz »Den Krieg neu denken«[11] schreibt der französische Philosoph Alain DE BENOIST: »Der Große Krieg von 1914­18 bedeutet vor allem den Beginn der ideologischen Kriege der Gegen­wart — der wohl verheerendsten von allen. .. Der Gegner ist nicht mehr nur ein Gegner, sondern ein Schuldiger, und seinem Land wird durch moralische Disqualifizierung jegliche Normalität und Souveränität abge­sprochen. … Man bricht plötzlich mit dem ehemaligen Völkerrecht und kehrt zu einer diskriminierenden Auffassung des Krieges und des Feindes zurück, in der eines der beteiligten Lager sich das Monopol der >Rechtspre­chung< herausnimmt. Das führt zu, einer Kriminalisierung des Feindes.«


[1] Zitiert in: Leon DEGRELLE, Hitler — Geboren in Versailles, Grabert, Tübingen 1992, S. 115.

[2] Paul CAMBON, Correspondance 1870-1924, Edition Bernard Grasset, Paris 1940, Teil II, S. 341, Brief vom 29. Juni 1919 an seinen Sohn.

[3] Harold KURZ, Eugenie — Kaiserin der Franzosen, Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen 1964.

[4] Friedrich Giumm, Politische Justiz — Die Krankheit unserer Zeit, Bonn 1953, Neu­auflage K. W. Schütz, Pr. Oldendorf 1974; gekürzt auch in: ders., Mit offenem Visier, Druffel, Leoni 1961, S. 276-280.

[5] Ebenda (Pol. Justiz, S. 167. In Artikel II Absatz 2 des Frankfurter Friedens von 1871 heißt es: »Kein Bewohner der abgetrennten Gebiete darf wegen seiner politischen oder militärischen Handlungen während des Krieges in seiner Per­son oder seinen Gütern verfolgt, beunruhigt oder verhaftet werden.«

[6] Ebenda, S. 169.

[7] Ebenda, S. 171.

[8] Willi REINERS, »Wir in Ludwigs­burg haben noch einiges vor«, in: Nürtinger Zeitung, 28. 11. 2009.

[9] Grimm, aaO. (Anm 4), S. 174 f.

[10] Immanuel KANT, Werke, Bd. 9, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darm­stadt 1971, S. 196.

[11] Alain DE BENOIST, Schöne vernetzte Welt, Hohenrain, Tübin­gen 2001, S. 116 f.

Quelle: Der Große Wendig 4, Nr. 743 (Download)

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