Die Weltrevolution ist 1920 haarscharf an uns vorbeigegangen
Die Sowjetunion sei »friedliebend« gewesen, als die deutsche Wehrmacht sie am 22. Juni 1941 auf breiter Front überraschend angriff. So verbreitete es die kommunistische Propaganda, so ist es im Westen noch heute zu hören.

In Wirklichkeit verfolgte STALIN seit 1920 Angriffspläne gegen Westeuropa, denen ab Anfang der dreißiger Jahre »das gigantischste Aufrüstungsprogramm aller Zeiten« zugrunde lag. Nach Vorstellung der Kremlherrn hatte sich ein solches Programm als vordringlich erwiesen, nachdem es im Jahre 1920 mißglückt war, Deutschland — wie von LENIN vorgesehen — dem kommunistischen Lager einzuverleiben. Denn die >Weltrevolution< war damals haarscharf an Deutschland vorbeigegangen, und zwar dank der geballten Anstrengung letzter konservativer Kräfte aus Teilen der Reichswehr und regierungstreuer Freikorps. So sieht es auch Bogdan MUSIAL, früherer Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau, derzeit am polnischen Institut des nationalen Gedenkens. Ihm und seinen Kollegen ist es gelungen, sowjetische Quellen zu erschließen, die darüber Aufschluß geben, welche Vorstellungen der Kreml mit seinem Weltrevolutionsvorhaben verband, das den Generalangriff über Polen hinweg auf das deutsche Reich und Westeuropa vorsah.[1]
Pilsudskis Traum vom Jagellonenreich
Dabei spielte Polen nach MUSIALs Auffassung eine nicht unmaßgebliche Rolle. Das aus dem deutschen Zusammenbruch und den Friedenverhandlungen von Versailles hervorgegangene polnische Staatswesen war gleichsam als Phönix aus der Asche zur Regionalmacht aufgestiegen und glaubte, selbst Nachbarn wie Rußland oder das Deutsche Reich nicht zu fürchten zu brauchen. Dabei kam ihm zugute, daß Rußland sich mitten im Bürgerkrieg befand, während Deutschland sich in den Nachwehen der Räte-Revolution vom November 1918 dahinquälte. Die günstige Gelegenheit nützend, faßte sich der Staatschef und Oberkommandierende der polnischen Streitkräfte, Josef PILSUDSKI, ein Herz und fiel mit seinen Schwadronen am 25. April 1920 in die Ukraine ein, wo er »in stürmischem Siegeslauf« Kiew einnahm, was kein Kunststück war, da der Gegner an vielen Orten kämpfend gebunden war.
Pate bei dem Unternehmen stand zweifellos der altpolnische Traum von der Wiedererrichtung des polnisch-litauischen Piasten- und Jagellonenreiches, dessen Gebiet sich im späten Mittelalter von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt hatte.

Wenn PILSUDSKI geglaubt hatte, die Zeit sei gekommen, große Teile der Ukraine dem russischen Staatsgebiet zu entreißen, so erwies sich das aber als Illusion. Das vom Fieber des Bürgerkrieges geschüttelte Rußland spannte seine Muskeln an und warf PILSUDSKIs Scharen noch im August desselben Jahres in einem über 700 Kilometer langen Gewaltmarsch bis vor die Tore Warschaus zurück. Dort allerdings, nachdem die von Paris unterstützte polnische Führung wieder Fuß gefaßt hatte, »begrub ein überraschender Gegenangriff PILSUDSKIs die bolschewistischen Hoffnungen auf die Weltrevolution« — zumindest, soweit dies Deutschland als wichtigste Etappe auf dem Weg dahin betraf. Denn Berlin, das man kampflos einzunehmen gedachte, ist das wahre Ziel dieses überstürzt organisierten russischen Gewaltaktes gewesen, nachdem »die kommunistische Internationale in LENINS Auftrag die deutschen Arbeiter aufgefordert hatte, sich zu bewaffnen und ihre Regierung zu stürzen«.[2] Das bestätigt uns Ernst NOLTE mit den Worten: »Denn die Verhältnisse in Deutschland entwickelten sich mit fotographischer Treue wie diejenigen in Rußland«.[3]Offenbar hatte der Sieg über die Polen LENIN vorschnell dazu verführt, alles auf eine Karte zu setzen, um das Tor nach Europa aufzustoßen.
Denn fortan schürten in seinem Auftrag Agenten und Umstürzler Arbeiteraufstände in den Ländern und Städten Deutschlands, um den Boden für die Weltrevolution vorzubereiten. Das Reich, so der Kern von LENINS Lehre, war der Schlüssel zu Europa, und wer diesen besaß, dem fiel der Rest sozusagen von selbst in den Schoß. Dabei war dem Industrieproletariat Frankreichs, Belgiens, Italiens und Spaniens die Geburtshelferrolle zugedacht. Jedenfalls legt eine Reihe öffentlicher Reden LENINS aus den folgenden Wochen und Monaten die Vermutung nahe, daß es nach seiner Auffassung im Sommer 1920 günstige Aussichten für eine Revolution in Deutschland gab.[4] Er sprach vor Industriearbeitern: »Als sich unsere Truppen Warschau näherten, begann es in ganz Deutschland zu brodeln. Dort zeigte sich ein ähnliches Bild wie bei uns. . . man traf erste Maßnahmen für die künftige deutsche Revolution, indem man eigens dafür eine deutsche Brigade aufstellte.«


Doch am 16. August 1920 zerschlug PILSUDSKIs Gegenangriff LENINs Träume einer raschen Verwirklichung der Revolution in Deutschland als der wichtigsten Etappe zur Weltrevolution.[5] Und es verwundert nicht, wenn MUSIAL uns mit erhobenem Zeigefinger auf die Retterrolle Polens hinweist: Polen allein sei es gewesen, das die Weimarer Demokratie samt dem übrigen Europa im Jahr 1920 vor dem sowjetischen Zugriff gerettet habe. Die prominenten Zeugen jedenfalls, die MUSIAL in Gestalt von LENIN und STALIN anführt, scheinen das zu belegen. Noch im Oktober 1920 drängte LENIN die Genossen: »Indem wir in Polen vorrücken, greifen wir die Entente (also England und Frankreich!, A. N.) selbst an.«[6]Und STALIN erinnert sich zwei Jahre später: »So lagen die Dinge 1920 während des Krieges gegen die Polen, als wir die unsere Kräfte übersteigende Aufgabe auf uns nahmen, über Warschau nach Europa durchzubrechen.«[7]
Die Niederlage vor Warschau, glaubt MUSIAL, »flößte den Sowjets einen gehörigen Respekt vor der polnischen Armee ein«. Sie führte Moskau zugleich vor Augen, daß die Polen jederzeit bereit sei, mit dem Mut der Verzweiflung für ihre Freiheit zu kämpfen.[8] Wahrscheinlich hat dem Marsch nach Kiew die gleiche Selbstüberschätzung der polnischen Streitkräfte zugrunde gelegen, wie sie im August 1939 gegenüber der Wehrmacht zutage trat. Denn in Wirklichkeit ergab sich die ziemlich hohe Schlagkraft der Polen eher aus der damaligen Schwäche der Roten Armee, wie MUSIAL zugeben muß.


Immerhin wird vor diesem Hintergrund verständlich, warum man in Moskau jetzt die dringende Notwendigkeit erkannte, die Rote Armee, die bislang mehr oder weniger als Bürgerkriegsarmee aufgetreten war, mit einem weit höheren Grad an militärischer Befähigung auszustatten. Dazu bedurfte es einer längeren Zeitvorgabe, um Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte entsprechend voranzutreiben. Neueste Aktenfunde in den Moskauer Archiven belegen das in zahlreichen Einzelheiten. Galt es doch, die Rote Armee, deren Leistungen den von LENIN an sie gestellten Ansprüchen nicht genügten, zum Angriffskrieg gegen Westeuropa zu konditionieren.
Marschall Tuchatschewskis Angriffsplanungen
Hierzu entwarf der spätere Marschall TUCHATSCHEWSKT die Konzeption eines groß angelegten Angriffsplanes, der die Rote Armee künftig befähigen sollte, »allen Armeen der Welt überlegen zu sein«. Dafür genügte es nicht, allein ihren Umfang zu erhöhen, vielmehr mußten die finanziellen und materiellen Grundlagen geschaffen werden, um sie als den bewaffneten Arm der sowjetischen >Befreiungsidee< erhalten, ausstatten und im Kampf führen zu können. Um den Anforderungen zu entsprechen, welche die Weltrevolution an sie stellten, bedurfte es zunächst einer Ausweitung der Rohstoffbasis, um danach die Kapazitäten zu veranschlagen, die es erlauben würden, eine verarbeitende Schwerindustrie aufzubauen. Dazu aber waren ausländische Ingenieure und Fachkräfte vonnöten, um sowjetische Facharbeiter heranzubilden. Ebenso mußten die dafür benötigten Finanzmittel und Materialien beschafft werden, denn das zaristische Rußland, das man übernommen hatte, war ein Bauernstaat gewesen, der kaum Industrie besaß. Ein so gigantisches Vorhaben konnte nur in Stufen vorangetrieben werden, weshalb eine Fünfjahresplanung erforderlich wurde, die fortan dem Sowjetstaat die Ziele setzte.

Da in der Wirtschaft der kapitalistischen Länder als Folge des Weltkrieges eine jährlich wachsende Arbeitslosigkeit und ein großer Mangel an Aufträgen vorherrschten, war es den Sowjets ein leichtes, alles Notwendige dort zu beschaffen, wo es in Fülle vorhanden war und nur darauf wartete, für gute Goldrubel zu Diensten zu sein. So kam es, daß die USA und England in kürzester Zeit in der Sowjetunion ganze Industriezweige aus Fertigbauteilen aufzurichten vermochten.
Sehr bald nahmen danach die Leistungen der Sowjetwirtschaft auf den Gebieten der Verbrauchsgüter- und Schwerindustrie, des Verkehrswesens sowie der Landwirtschaftsproduktion einen beachtlichen Aufschwung, und das trotz der damit verbundenen Fehlkalkulationen durch Planungsirrtum und Mißwirtschaft. Der in weniger als einem Jahrzehnt entstandene enorme Produktivitätszuwachs mußte allerdings mit erheblichen Opfern bei der Bevölkerung bezahlt werden. Am bekanntesten ist die mit den Rationalisierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft verbundene Vernichtung des Großbauerntums, was zu Millionen von Opfern durch Hungerepidemien und Bauernaufstände führte. Indem es dem Politbüro gelang, die gesamte arbeitende Bevölkerung der Sowjetunion einem einzigen Zweck unterzuordnen, der Durchsetzung der Weltrevolution mit militärischen Mitteln, wurde die Grundlage zur Realisierung von TUCHATSCHEWSKIS Planungskonzept gelegt. Erst dadurch wurde es möglich, die Rote Armee planmäßig aufzubauen, auszubilden und auszurüsten. Als dennoch die manchenorts auftretenden Unruhen, die zu Ungehorsam und Aufständen führten, kein Ende nahmen, entschloß sich der Oberste Sowjet, das Land mit einem beispiellosen Massenterror zu überziehen, der sich in erster Linie gegen die Bauern, später dann auch gegen das Handwerk und den Handel richtete.

Bemerkenswert an diesem von einem Altgardisten des Bürgerkrieges entworfenen Aufrüstungskonzept ist sein maßloser, ja geradezu aberwitziger Ansatz, der für den Angriff gegen Westeuropa den Masseneinsatz von Kriegsgerät, vor allem von Kampfpanzern, vorsah[9] — und zwar zu einer Zeit, als die übrige Welt noch kaum über Panzerwagen verfügte, denn damals besaßen die Westmächte fast nur veraltetes Gerät, Deutschland und Polen dagegen überhaupt nichts. Allerdings lagen in den Panzerschränken westlicher Generalstäbe bereits aufschlußreiche Studien darüber vor, wie ein modernes Kriegsbild voraussichtlich aussehen werde. Entsprechend ließen sich den internationalen Fachblättern aufschlußreiches Expertengutachten darüber entnehmen, die in Moskau aufmersam gelesen wurden.
Nachdem Michail TUCHATSCHEWSKI zunächst den Fachbereich militärische Strategie an der Moskauer Militärakademie geleitet hatte, wo er die westlichen Diskussionen über Kriegstechnik und -strategie genau verfolgte, wurde er 1930 Oberbefehlshaber des Leningrader Militärbezirks. In dieser Stellung verfaßte er eine Reihe von Denkschriften, worin er sich — wie oben erwähnt — für die radikale Modernisierung und Ausbildung der Roten Armee verwandte. Dazu gehörte die Forderung, die eigene Truppe schwerpunktmäßig für den modernen Angriffskrieg mit Panzern und Flugzeugen auszubilden. Zugleich verlangte er den beschleunigten Ausbau des Straßensystems, des Eisenbahn- und Transportwesens sowie der Mobilisationsmaßnahmen. Der Endumfang der Roten Armee sollte folgende Stärke erreichen: 260 Panzer- und Schützendivisionen mit 50 000 Panzern, 50 Artilleriedivisionen mit 100 000 Geschützen, 80 Fliegerdivisionen mit 40 000 Kampfflugzeugen, zahlreiche Spezialverbände für chemische Kampfmittel, sowie Pionier-, Nachrichten-, Gebirgstruppen und das modernste Angriffsinstrument: Fallschirmjäger.[10] Zu einer Zeit, als die übrige Welt über keinen einzigen Fallschirmjäger verfügte, wurde in der Sowjetunion Personal für 12 Luftlandebrigaden ausgebildet; und 1941 besaß Moskau eine Reserve von über einer Million ausgebildeter Fallschirmspringer.[11]
MUSIAL berichtet, daß der damalige, Kriegsminister, Marschall WOROSCHILOW, TUCHATSCHEWSKIS Denkschriften akribisch prüfte und mit kritischen Vermerken an STALIN weiterleitete. Und obwohl der Kremlherr sich zuweilen darüber lustig machte und anmerkte, die Zahlen seien utopisch, die Rüstungsindustrie werde solche Mengen unmöglich liefern können, unterstützte er mit dem größten Interesse dessen Angriffsplanung.
Zwar wurde bis zum Jahr 1941 kaum mehr als die Hälfte des geforderten Kriegsmaterials an die Rote Armee ausgeliefert, doch überstieg das immer noch dasjenige der gesamten übrigen Welt. Das hatte zur Folge, daß die Sowjetunion zu Kriegsbeginn über 24 000 Kampfpanzer, 22 000 Kampfflugzeuge und 309 aktive Divisionen verfügte, womit sie der deutschen Wehrmacht um ein Vielfaches überlegen war.[12]
Die raschen Siege HITLERS im Westen und Süden Europas hatten STALIN zur Eile angetrieben und seine Angriffsvorbereitungen beschleunigt. Obwohl er an HITLERS Angriffsabsicht zweifelte, so lange England nicht aus dem Feld geschlagen war, befahl er dennoch den grenznahen Aufmarsch der Roten Armee, um jederzeit zuschlagen und Berlin erpressen zu können. Indem HITLER gegen sein eigenes Credo verstieß und den Zweifrontenkrieg riskierte, gelang es ihm, den mißtrauischen und mehrmals vorgewarnten STALIN zu überraschen. Sein Gewaltschlag traf die Rote Armee inmitten der Aufmarschbewegungen, welche die größten waren, die die Welt je gesehen hat. Damit erklären sich für MUSIAL auch die nachfolgenden sowjetischen Niederlagen, die vor allem darauf gründeten, daß man in Moskau nur in Angriffskategorien dachte und keinen Gedanken an die Landesverteidigung verschwendete.

War Pilsudski wirklich einem russischen Angriff zuvorgekommen?
Parallelität der Fälle! Auch 1920, so belehrt uns MUSIAL, sei PILSUDSKI nicht aus freien Stücken nach Kiew marschiert, vielmehr sei er — ähnlich wie HITLER 1941 — einem russischen Angriff nur zuvorgekommen. Und das ist nun gänzlich neu, denn davon hat man bis dato noch nichts gehört. In Warschau, so MUSIAL, habe man nämlich erfahren, daß Boris SCHAPOSCHNTKOW, Chef der Operativen Verwaltung der Roten Armee, einen Plan für den Angriffskrieg gegen Polen ausgearbeitet und daß er bereits zwei Divisionen in den polnischen Abschnitt der russischen Westfront verlegt habe. (Eine Westfront bestand allerdings damals nicht, gemeint ist wohl »westlicher Militärbezirk«.) Daß LENIN noch am 18. Februar 1920 vor westlichen Journalisten beteuert hatte, Moskau verfolge allein friedliche Absichten gegenüber Polen, konnte durchaus als Täuschung verstanden werden.12 Wir denken, es sind alles andere als aussagekräftige Anzeichen, die uns MUSIL da mitteilt, doch PILSUDSKI genügten sie offenbar, um zum Angriff auf Kiew zu blasen. Auch MUSIL scheinen sie ausreichend, um den polnischen Angriff von 1920 zu rechtfertigen, der übrigens im Unterschied zu dem deutschen von 1941 ein echter Präventivschlag gewesen sei, wie er glaubt.[13]
Man wird verstehen, wenn wir darüber etwas verwundert sind, denn woher hätten die Sowjets im Frühjahr 1920 und inmitten des Bürgerkrieges die Kräfte für einen Angriff auf Polen hernehmen sollen? Die Bolschewisten prügelten sich doch allerorten mit den zaristischen Truppen, so in Sibirien, Weißrußland, den baltischen Staaten und in der Ukraine, wo General WRANGEL die Weißen befehligte. Erst als dieser geschlagen war, und das war etwa um die Zeit, als PILSUDSKI Kiew nahm, hatte man wieder Kräfte zur Verfügung, um die wild gewordenen Polen zu zügeln.

Auch kennen wir ein anderes LENIN-Wort, das da lautet: »Und wir sagen den Polen, daß wir die Grenze, wo wir jetzt stehen, niemals überschreiten werden!«[14]Das war zwar nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, entsprach aber der Lage im März 1920, da den Genossen das Wasser bis zum Halse stand und sie wirklich anderes zu tun hatten, als gegen Warschau Krieg zu führen. Erst als sich im August 1920, also vier Monate später, ihr improvisierter Gegenschlag über Erwarten gut machte und als es gelang, PILSUDSKIs Scharen 700 Kilometer zurückzuschlagen, verstand man sich zu dem Versuch, die Weltrevolution ein wenig zu beschleunigen, die nach wie vor das erklärte Ziel Moskaus war. Denn die Lage in Deutschland entsprach ja bereits, wie uns NOLTE belehrt, der Bürgerkriegssituation in den russischen Republiken.
MUSIALs Studie zeichnet die Genese und den langjährigen Verlauf der sowjetischen Rüstungsanstrengungen und Angriffsvorbereitungen ausführlich nach, wobei er vor allem die zahlreichen Störfaktoren und deren Auswirkung auf die Kriegsbereitschaft der Roten Armee untersucht. Denn »immer wieder gab es spektakuläre Rückschläge, die STALIN grundsätzlich als vorsätzliche Sabotage und Schädlingsaktivitäten deutete«. Und da der Kremlherr seinen Generalen und Stabsoffizieren mehr und mehr zu mißtrauen begann, ließ er ab 1936 viele von ihnen aufgrund fadenscheiniger Schauprozesse beseitigen. Tausende fanden so den Tod in Gefängnissen oder im Gulag. Selbst vor der Ermordung TUCHATSCHEWSKIS und BLOCHERS schreckte er nicht zurück, die beide damals populär waren. Doch das änderte nichts an seinen aggressiven Planungen, sondern beschleunigte sie sogar noch, was dazu beitrug, daß die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 ihren Gegner überraschend zu schlagen vermochte. Denn der war zwar bis an die Zähne bewaffnet, doch wiesen Kriegsgerät und Aufstellung der Truppe noch massive Mängel auf.[15]
Wann hätte der Kreml zugeschlagen, wirklich erst 1942?

Da die Schwerindustrie mit der Umsetzung der Rüstungsaufträge für die Rote Armee nicht rechtzeitig fertig wurde, mußte der geheime Angriffstermin wiederholt verschoben werden. MUSIAL meint, er hätte — nach Lage der Dinge — wohl kaum vor Frühjahr 1942 verwirklicht werden können, möglicherweise sogar noch später.[16] Damit erweist er der neueren revisionistischen Forschung auf diesem Gebiet alles andere als einen Liebesdienst, sondern hält eher der lizensierten Zeitgeschichtslehre die Stange, die Ähnliches behauptet oder am sowjetischen Angriffswillen grundsätzlich zweifelt. Ob dies Verhalten seinem neuen Arbeitgeber, dem Institut des nationalen Gedenkens in Warschau, geschuldet oder Ergebnis eigenen Forschens ist, wer weiß es? Jedenfalls, die Präventivkriegsthese, die Deutschland entlasten könnte, billigt er ihm nicht zu. Das ist zwar bedauerlich, doch darf darüber eines nicht vergessen werden: MUSIALs Studie weist mit erfreulicher Deutlichkeit nach, daß ein sowjetischer Angriffsakt auf Deutschland und Europa mit großer Bestimmtheit vorgesehen und bis in kleinste ausgearbeitet war. Lediglich aufgrund von Terminverzögerungen, wie sie nun einmal in der UdSSR an der Tagesordnung waren, wurde er nicht rechtzeitig fertig. Anders als HITLER dachte STALIN Verzögerungen in Kauf nehmen zu können, weil er glaubte, mit einem unmittelbaren deutschen Angriff nicht rechnen zu müssen, und weil seine Planungen im Unterschied zu den deutschen nicht von der Jahreszeit abhängig waren. Das gemäßigte Klima Westeuropas hätte einem Winterkrieg kein so unüberwindbares Hindernis entgegengesetzt, wie dies in Rußland der Fall war. STALIN konnte den vermeintlich richtigen Augenblick abwarten, was er auch tat. Hätte er jedoch in der Aufbauphase nicht eine kluge Industriepolitik betrieben, indem er große Teile seiner Rüstungsindustrie vorsorglich jenseits des Urals ansiedelte, wo sie ungestört produzieren konnte, wäre dem deutschen Blitz wahrscheinlich vernichtende Wirkung zugekommen. Auch machte sich der Vorkriegsterror für STALIN insofern bezahlt, als Parteiapparat und Sowjetvolk ihm im Krieg widerspruchslos Folge leisteten. Das versetzte ihn in die Lage, den großen >Vaterländischen Krieg< zu einem siegreichen Ende zu führen.
Als wichtig bleibt festzuhalten, daß das Angriffskonzept TUCHATSCHEWSKIS nicht nur STALINS volle Billigung und Unterstützung besaß, sondern in seinem Auftrag von Jahr zu Jahr fortgeschrieben wurde. Die letzte Fassung, die Marschall SCHUKOW im Mai 1941 bearbeitet hat, wurde erst wenige Jahre vor der Wende wiederentdeckt, was unter unseren Zeithistorikern erheblichen Wirbel hervorrief. Besonderes Aufsehen kam der darin enthaltenen Leitlinie zu, nach der die Rote Armee jederzeit zum Angriff auf das Reich befähigt sein müsse, um einem denkbaren deutschen Angriff zuvorkommen zu können.
Da es erklärtes Ziel der sowjetischen Außenpolitik war, die kommunistische Herrschaft in Europa und der Welt, wenn nötig, mit Waffengewalt zu errichten, ist kaum nachzuvollziehen, warum der deutschen Wehrmacht nicht das »Präveniere im weiteren Sinne« zugebilligt werden sollte. Ihre ungenaue Kenntnis über den Umfang der sowjetischen Rüstung dürfte dabei, entgegen MUSIALs Meinung,[17] keine Rolle spielen. Denn angesichts der massiven Bedrohung durch den gigantischen Aufmarsch der Roten Armee an Deutschlands Ostgrenze erscheint ein befreiender Militärschlag wie der vom 22. Juni 1941 vollauf gerechtfertigt. Ihm kommt damit, anders als demjenigen PILSUDSKIs vom 25. April 1920, durchaus der Charakter einer Präventiv-Handlung zu.[18] Und dieser Militärschlag war auch nicht, wie MUSIAL annimmt,[19] von langer Hand vorbereitet, vielmehr erhielt er den entscheidenden Impuls aufgrund der zutage getretenen ernsthaften Differenzen beim Besuch des Außenkommissars MOLOTOW am 12. November 1941 in Berlin.
Wie wir alle wissen, sind in neuerer Zeit von bekannter Seite dergleichen Präventivaktionen wiederholt praktiziert worden, ohne daß die Welt ihre Stimme erhoben hätte.[20] Wenn zwei das Gleiche tun usw. — die alte Geschichte.
Andreas Naumann

[1] Bogdan MUSIAL, Kampfplatz Deutschland, Propyläen, Berlin 2008, S. 114 f.
[2] Ebenda, S. 38.
[3] Ernst NOLTE, Der europäische Bürgerkrieg, Propyläen, Frankfurt/M. 1989, S. 95 ff.
[4] LENINS Rede v. 22. 9. 1920.
[5] MUSIAL, aaO. (Anm. 1), S. 50.
[6] LENINS Rede v. 2. 10. 1920.
[7] Prawda Nr. 56, 15. 3. 1923; MUSIAL, aaO. (Anm. 1), S. 60.
[8] MUSIAL, ebenda, S. 61.
[9] Ebenda, S. 302 ff.
[10] Ebenda, S. 313 ff.
[11] Vgl. dazu auch Viktor SUWOROW, Der Eisbrecher, Klett Cotta, Stuttgart 1989, S. 231.
[12] MUSIAL, aaO. (Anm 1), S. 34.
[13] Ebenda, S. 457.
[14] LENINs Referat auf dem 1. Gesamtrussischen Kongreß v. 1. 3. 1920.
[15] MUSIAL, aaO. (Anm. 1): LENINS Referat auf dem 1. Gesamtrussischen Kongreß v. 1. 3. 1920.
[16] MUSIAL, ebenda, S. 451 ff.
[17] Ebenda, S. 456.
[18] Bogdan MUSIAL ist allerdings gegenteiliger Meinung, siehe in: ebenda, S. 456.
[19] Ebenda, S. 461.
[20] Vgl dazu auch: Andreas NAUMANN, Freispruch für die Deutsche Wehrmacht, Grabert, Tübingen 2005, S. 32 ff.
Quelle: Der Große Wendig 4, Nr. 744 (Download)
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