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Haarscharf

Die Weltrevolution ist 1920 haarscharf an uns vorbeigegangen

Die Sowjetunion sei »friedliebend« gewesen, als die deutsche Wehr­macht sie am 22. Juni 1941 auf breiter Front überraschend angriff. So verbreitete es die kommunistische Propaganda, so ist es im Westen noch heute zu hören.

Josef PILSUDSKI, der während des Ersten Weltkriegs mit seiner Legion auf österrei­chischer Seite gegen Rußland gekämpft hatte, träumte von der Wiederherstel­lung des JagelIonen­reichs. 1920 profitier­te er von der Schwäche der sowjet­russischen Armee.

In Wirklichkeit verfolgte STALIN seit 1920 Angriffspläne gegen West­europa, denen ab Anfang der dreißiger Jahre »das gigantischste Aufrü­stungsprogramm aller Zeiten« zugrunde lag. Nach Vorstellung der Kreml­herrn hatte sich ein solches Programm als vordringlich erwiesen, nachdem es im Jahre 1920 mißglückt war, Deutschland — wie von LENIN vorgese­hen — dem kommunistischen Lager einzuverleiben. Denn die >Weltrevo­lution< war damals haarscharf an Deutschland vorbeigegangen, und zwar dank der geballten Anstrengung letzter konservativer Kräfte aus Teilen der Reichswehr und regierungstreuer Freikorps. So sieht es auch Bogdan MUSIAL, früherer Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in War­schau, derzeit am polnischen Institut des nationalen Gedenkens. Ihm und seinen Kollegen ist es gelungen, sowjetische Quellen zu erschließen, die darüber Aufschluß geben, welche Vorstellungen der Kreml mit sei­nem Weltrevolutionsvorhaben verband, das den Generalangriff über Polen hinweg auf das deutsche Reich und Westeuropa vorsah.[1]

Pilsudskis Traum vom Jagellonenreich

Dabei spielte Polen nach MUSIALs Auffassung eine nicht unmaßgebliche Rolle. Das aus dem deutschen Zusammenbruch und den Friedenverhand­lungen von Versailles hervorgegangene polnische Staatswesen war gleich­sam als Phönix aus der Asche zur Regionalmacht aufgestiegen und glaubte, selbst Nachbarn wie Rußland oder das Deutsche Reich nicht zu fürchten zu brauchen. Dabei kam ihm zugute, daß Rußland sich mitten im Bür­gerkrieg befand, während Deutschland sich in den Nachwehen der Räte-Revolution vom November 1918 dahinquälte. Die günstige Gelegenheit nützend, faßte sich der Staatschef und Oberkommandierende der polni­schen Streitkräfte, Josef PILSUDSKI, ein Herz und fiel mit seinen Schwa­dronen am 25. April 1920 in die Ukraine ein, wo er »in stürmischem Siegeslauf« Kiew einnahm, was kein Kunststück war, da der Gegner an vielen Orten kämpfend gebunden war.

Pate bei dem Unternehmen stand zweifellos der altpolnische Traum von der Wiedererrichtung des polnisch-litauischen Piasten- und Jagellonenreiches, dessen Gebiet sich im späten Mittelalter von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt hatte.

Oben: Polnische Truppen, die größtenteils von der französischen Armee ausgestattet und bewaffnet wurden, marschieren in Kiew ein, wo sie allerdings nur fünf Wochen bleiben können. Unten: General Joseph HALLER (links im Bild) läßt sich im polnisch-sowje­tischen Krieg die bolschewistischen Stellungen zeigen. Er über­nahm den Befehl über die polnische Nordarmee.

Wenn PILSUDSKI geglaubt hatte, die Zeit sei gekommen, große Teile der Ukraine dem russischen Staatsgebiet zu entreißen, so erwies sich das aber als Illusion. Das vom Fieber des Bürgerkrieges geschüttelte Ruß­land spannte seine Muskeln an und warf PILSUDSKIs Scharen noch im August desselben Jahres in einem über 700 Kilometer langen Gewalt­marsch bis vor die Tore Warschaus zurück. Dort allerdings, nachdem die von Paris unterstützte polnische Führung wieder Fuß gefaßt hatte, »begrub ein überraschender Ge­genangriff PILSUDSKIs die bolsche­wistischen Hoffnungen auf die Weltrevolution« — zumindest, so­weit dies Deutschland als wichtig­ste Etappe auf dem Weg dahin be­traf. Denn Berlin, das man kampflos einzunehmen gedachte, ist das wahre Ziel dieses überstürzt organisierten russischen Gewaltak­tes gewesen, nachdem »die kom­munistische Internationale in LE­NINS Auftrag die deutschen Arbeiter aufgefordert hatte, sich zu bewaff­nen und ihre Regierung zu stür­zen«.[2] Das bestätigt uns Ernst NOL­TE mit den Worten: »Denn die Verhältnisse in Deutschland ent­wickelten sich mit fotographischer Treue wie diejenigen in Rußland«.[3]Offenbar hatte der Sieg über die Polen LENIN vorschnell dazu ver­führt, alles auf eine Karte zu set­zen, um das Tor nach Europa auf­zustoßen.

Denn fortan schürten in seinem Auftrag Agenten und Umstürzler Arbeiteraufstände in den Ländern und Städten Deutschlands, um den Boden für die Weltrevolution vorzubereiten. Das Reich, so der Kern von LENINS Lehre, war der Schlüssel zu Europa, und wer diesen besaß, dem fiel der Rest sozusagen von selbst in den Schoß. Dabei war dem Indu­strieproletariat Frankreichs, Belgiens, Italiens und Spaniens die Geburts­helferrolle zugedacht. Jedenfalls legt eine Reihe öffentlicher Reden LE­NINS aus den folgenden Wochen und Monaten die Vermutung nahe, daß es nach seiner Auffassung im Sommer 1920 günstige Aussichten für eine Revolution in Deutschland gab.[4] Er sprach vor Industriearbeitern: »Als sich unsere Truppen Warschau näherten, begann es in ganz Deutschland zu brodeln. Dort zeigte sich ein ähnliches Bild wie bei uns. . . man traf erste Maßnahmen für die künftige deutsche Revolution, indem man ei­gens dafür eine deutsche Brigade aufstellte.«

Karl RADEK sollte im Auftrag LENINS den Boden für die Weltre­volution in Deutsch­land vorbereiten.
General Maxime WEY­GAND bemühte sich mit weiteren französi­schen Offizieren, Wege zu finden, um die Einnahme War­schaus durch die Bol­schewisten zu verhin­dern. Seine beratende Rolle auf dem Höhe­punkt des Krieges er­wies sich als entschei­dend. Hier nimmt er von den letzten Infor­mationen Kenntnis, die dem polnischen Hauptquartier zuge­kommen sind.

Doch am 16. August 1920 zerschlug PILSUDSKIs Gegenangriff LENINs Träume einer raschen Verwirklichung der Revolution in Deutschland als der wichtigsten Etappe zur Weltrevolution.[5] Und es verwundert nicht, wenn MUSIAL uns mit erhobenem Zeigefinger auf die Retterrolle Polens hinweist: Polen allein sei es gewesen, das die Weimarer Demokratie samt dem übrigen Europa im Jahr 1920 vor dem sowjetischen Zugriff gerettet habe. Die prominenten Zeugen jedenfalls, die MUSIAL in Gestalt von LENIN und STALIN anführt, scheinen das zu belegen. Noch im Oktober 1920 drängte LENIN die Genossen: »Indem wir in Polen vorrücken, greifen wir die Entente (also England und Frankreich!, A. N.) selbst an.«[6]Und STALIN erinnert sich zwei Jahre später: »So lagen die Dinge 1920 wäh­rend des Krieges gegen die Polen, als wir die unsere Kräfte übersteigende Aufga­be auf uns nahmen, über Warschau nach Europa durchzubrechen.«[7]

Die Niederlage vor War­schau, glaubt MUSIAL, »flößte den Sowjets einen gehörigen Respekt vor der polnischen Armee ein«. Sie führte Moskau zugleich vor Augen, daß die Polen jederzeit bereit sei, mit dem Mut der Verzweiflung für ihre Freiheit zu kämpfen.[8] Wahrscheinlich hat dem Marsch nach Kiew die gleiche Selbstüberschätzung der polnischen Streitkräfte zugrunde gelegen, wie sie im August 1939 gegenüber der Wehrmacht zutage trat. Denn in Wirklichkeit ergab sich die ziemlich hohe Schlagkraft der Polen eher aus der damaligen Schwäche der Roten Armee, wie MUSIAL zugeben muß.

Eine der wenigen Aufnahmen, auf denen LENIN und STALIN Seite an Seite zu sehen sind, hier beim X. Parteitag.
Arbeiter und Fachkräfte aus Deutschland und der Schweiz treffen in Moskau ein. Tausende sollten beim Industrieaufbau der Sowjetunion mitwirken und russische Fachkräfte heranbilden. Zahlreiche fielen der STALINschen Verfolgung zum Opfer. Aus: Hugo PORTISCH, Hört die Signale, Wien 1991.

Immerhin wird vor diesem Hintergrund verständlich, warum man in Moskau jetzt die dringende Notwendigkeit erkannte, die Rote Armee, die bislang mehr oder weni­ger als Bürgerkriegsarmee aufgetreten war, mit einem weit höheren Grad an militärischer Befähigung auszustatten. Dazu be­durfte es einer längeren Zeitvorgabe, um Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräf­te entsprechend voranzutreiben. Neueste Aktenfunde in den Moskauer Archiven be­legen das in zahlreichen Einzelheiten. Galt es doch, die Rote Armee, deren Leistun­gen den von LENIN an sie gestellten An­sprüchen nicht genügten, zum Angriffskrieg gegen Westeuropa zu konditionieren.

Marschall Tuchatschewskis Angriffsplanungen

Hierzu entwarf der spätere Marschall TUCH­ATSCHEWSKT die Konzeption eines groß an­gelegten Angriffsplanes, der die Rote Ar­mee künftig befähigen sollte, »allen Armeen der Welt überlegen zu sein«. Dafür genügte es nicht, allein ihren Umfang zu erhöhen, vielmehr mußten die finanziellen und ma­teriellen Grundlagen geschaffen werden, um sie als den bewaffneten Arm der so­wjetischen >Befreiungsidee< erhalten, ausstatten und im Kampf führen zu können. Um den Anforderungen zu entsprechen, welche die Weltrevolution an sie stellten, bedurfte es zu­nächst einer Ausweitung der Rohstoffbasis, um danach die Kapazitäten zu veranschlagen, die es erlauben würden, eine verarbeitende Schwerin­dustrie aufzubauen. Dazu aber waren ausländische Ingenieure und Fach­kräfte vonnöten, um sowjetische Facharbeiter heranzubilden. Ebenso mußten die dafür benötigten Finanzmittel und Materialien beschafft wer­den, denn das zaristische Rußland, das man übernommen hatte, war ein Bauernstaat gewesen, der kaum Industrie besaß. Ein so gigantisches Vor­haben konnte nur in Stufen vorangetrieben werden, weshalb eine Fünfjah­resplanung erforderlich wurde, die fortan dem Sowjetstaat die Ziele setzte.

Michael TUCHAT­SCHEWSKI (1892­1937). 1920 be­zeichnete er die russische Armee als »Horde«, und ihre Stärke sei die Horde.

Da in der Wirtschaft der kapitalistischen Länder als Folge des Welt­krieges eine jährlich wachsende Arbeitslosigkeit und ein großer Mangel an Aufträgen vorherrschten, war es den Sowjets ein leichtes, alles Not­wendige dort zu beschaffen, wo es in Fülle vorhanden war und nur dar­auf wartete, für gute Goldrubel zu Diensten zu sein. So kam es, daß die USA und England in kürzester Zeit in der Sowjetunion ganze Industrie­zweige aus Fertigbauteilen aufzurichten vermochten.

Sehr bald nahmen danach die Leistungen der Sowjetwirtschaft auf den Gebieten der Verbrauchsgüter- und Schwerindustrie, des Verkehrs­wesens sowie der Landwirtschaftsproduktion einen beachtlichen Auf­schwung, und das trotz der damit verbundenen Fehlkalkulationen durch Planungsirrtum und Mißwirtschaft. Der in weniger als einem Jahrzehnt entstandene enorme Produktivitätszuwachs mußte allerdings mit erheb­lichen Opfern bei der Bevölkerung bezahlt werden. Am bekanntesten ist die mit den Rationalisierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft verbun­dene Vernichtung des Großbauerntums, was zu Millionen von Opfern durch Hungerepidemien und Bauernaufstände führte. Indem es dem Politbüro gelang, die gesamte arbeitende Bevölkerung der Sowjetunion einem einzigen Zweck unterzuordnen, der Durchsetzung der Weltrevo­lution mit militärischen Mitteln, wurde die Grundlage zur Realisierung von TUCHATSCHEWSKIS Planungskonzept gelegt. Erst dadurch wurde es möglich, die Rote Armee planmäßig aufzubauen, auszubilden und aus­zurüsten. Als dennoch die manchenorts auftretenden Unruhen, die zu Ungehorsam und Aufständen führten, kein Ende nahmen, entschloß sich der Oberste Sowjet, das Land mit einem beispiellosen Massenterror zu überziehen, der sich in erster Linie gegen die Bauern, später dann auch gegen das Handwerk und den Handel richtete.

Zwei wichtige Instru­mente des riesigen Produktivitätszuwach­ses in der Sowjetuni­on waren zum einen die Militarisierung der Arbeit (>Soldaten auf den Feldern!<), zum anderen der >freiwilli­ge Arbeitseinsatz<, genannt >Subotnik<, hier auf dem Gelände des Roten Platzes. Die ganze Bevölkerung solle sich an den >Subotniks< beteili­gen, hieß es. Aus: Hugo PORTISCH, Hört die Signale, Wien 1991.

Bemerkenswert an diesem von einem Altgardisten des Bürgerkrieges entworfenen Aufrüstungskonzept ist sein maßloser, ja geradezu aberwit­ziger Ansatz, der für den Angriff gegen Westeuropa den Masseneinsatz von Kriegsgerät, vor allem von Kampfpanzern, vorsah[9] — und zwar zu einer Zeit, als die übrige Welt noch kaum über Panzerwagen verfügte, denn damals besaßen die Westmächte fast nur veraltetes Gerät, Deutsch­land und Polen dagegen überhaupt nichts. Allerdings lagen in den Pan­zerschränken westlicher Generalstäbe bereits aufschlußreiche Studien darüber vor, wie ein modernes Kriegsbild voraussichtlich aussehen wer­de. Entsprechend ließen sich den internationalen Fachblättern aufschluß­reiches Expertengutachten darüber entnehmen, die in Moskau aufmer­sam gelesen wurden.

Nachdem Michail TUCHATSCHEWSKI zunächst den Fachbereich militä­rische Strategie an der Moskauer Militärakademie geleitet hatte, wo er die westlichen Diskussionen über Kriegstechnik und -strategie genau ver­folgte, wurde er 1930 Oberbefehlshaber des Leningrader Militärbezirks. In dieser Stellung verfaßte er eine Reihe von Denkschriften, worin er sich — wie oben erwähnt — für die radikale Modernisierung und Ausbildung der Roten Armee verwandte. Dazu gehörte die Forderung, die eigene Truppe schwerpunktmäßig für den modernen Angriffskrieg mit Panzern und Flug­zeugen auszubilden. Zugleich verlangte er den beschleunigten Ausbau des Straßensystems, des Eisenbahn- und Transportwesens sowie der Mobilisationsmaßnahmen. Der Endumfang der Roten Armee sollte fol­gende Stärke erreichen: 260 Panzer- und Schützendivisionen mit 50 000 Panzern, 50 Artilleriedivisionen mit 100 000 Geschützen, 80 Fliegerdivi­sionen mit 40 000 Kampfflugzeugen, zahlreiche Spezialverbände für che­mische Kampfmittel, sowie Pionier-, Nachrichten-, Gebirgstruppen und das modernste Angriffsinstrument: Fallschirmjäger.[10] Zu einer Zeit, als die übrige Welt über keinen einzigen Fallschirmjäger verfügte, wurde in der Sowjetunion Personal für 12 Luftlandebrigaden ausgebildet; und 1941 besaß Moskau eine Reserve von über einer Million ausgebildeter Fall­schirmspringer.[11]

MUSIAL berichtet, daß der damalige, Kriegsminister, Marschall WORO­SCHILOW, TUCHATSCHEWSKIS Denkschriften akribisch prüfte und mit kriti­schen Vermerken an STALIN weiterleitete. Und obwohl der Kremlherr sich zuweilen darüber lustig machte und anmerkte, die Zahlen seien utopisch, die Rüstungsindustrie werde solche Mengen unmöglich liefern können, unterstützte er mit dem größten Interesse dessen Angriffsplanung.

Zwar wurde bis zum Jahr 1941 kaum mehr als die Hälfte des geforder­ten Kriegsmaterials an die Rote Armee ausgeliefert, doch überstieg das immer noch dasjenige der gesamten übrigen Welt. Das hatte zur Folge, daß die Sowjetunion zu Kriegsbeginn über 24 000 Kampfpanzer, 22 000 Kampfflugzeuge und 309 aktive Divisionen verfügte, womit sie der deut­schen Wehrmacht um ein Vielfaches überlegen war.[12]

Die raschen Siege HITLERS im Westen und Süden Europas hatten STA­LIN zur Eile angetrieben und seine Angriffsvorbereitungen beschleunigt. Obwohl er an HITLERS Angriffsabsicht zweifelte, so lange England nicht aus dem Feld geschlagen war, befahl er dennoch den grenznahen Auf­marsch der Roten Armee, um jederzeit zuschlagen und Berlin erpressen zu können. Indem HITLER gegen sein eigenes Credo verstieß und den Zweifrontenkrieg riskierte, gelang es ihm, den mißtrauischen und mehr­mals vorgewarnten STALIN zu überraschen. Sein Gewaltschlag traf die Rote Armee inmitten der Aufmarschbewegungen, welche die größten waren, die die Welt je gesehen hat. Damit erklären sich für MUSIAL auch die nachfolgenden sowjetischen Niederlagen, die vor allem darauf grün­deten, daß man in Moskau nur in Angriffskategorien dachte und keinen Gedanken an die Landesverteidigung verschwendete.

Boris SCHAPOSCHNIKOW auf einer Briefmarke.

War Pilsudski wirklich einem russischen Angriff zuvorgekommen?

Parallelität der Fälle! Auch 1920, so belehrt uns MUSIAL, sei PILSUDSKI nicht aus freien Stücken nach Kiew marschiert, vielmehr sei er — ähnlich wie HITLER 1941 — einem russischen Angriff nur zuvorgekommen. Und das ist nun gänzlich neu, denn davon hat man bis dato noch nichts gehört. In Warschau, so MUSIAL, habe man nämlich erfahren, daß Boris SCHAPOSCH­NTKOW, Chef der Operativen Verwaltung der Roten Armee, einen Plan für den Angriffskrieg gegen Polen ausgearbeitet und daß er bereits zwei Divisionen in den polnischen Abschnitt der russischen Westfront verlegt habe. (Eine Westfront bestand allerdings damals nicht, gemeint ist wohl »westlicher Militärbezirk«.) Daß LENIN noch am 18. Februar 1920 vor west­lichen Journalisten beteuert hatte, Moskau verfolge allein friedliche Ab­sichten gegenüber Polen, konnte durchaus als Täuschung verstanden werden.12 Wir denken, es sind alles andere als aussagekräftige Anzeichen, die uns MUSIL da mitteilt, doch PILSUDSKI genügten sie offenbar, um zum Angriff auf Kiew zu blasen. Auch MUSIL scheinen sie ausreichend, um den polnischen Angriff von 1920 zu rechtfertigen, der übrigens im Unterschied zu dem deutschen von 1941 ein echter Präventivschlag gewe­sen sei, wie er glaubt.[13]

Man wird verstehen, wenn wir darüber etwas verwundert sind, denn woher hätten die Sowjets im Frühjahr 1920 und inmitten des Bürgerkrie­ges die Kräfte für einen Angriff auf Polen hernehmen sollen? Die Bol­schewisten prügelten sich doch allerorten mit den zaristischen Truppen, so in Sibirien, Weißrußland, den baltischen Staaten und in der Ukraine, wo General WRANGEL die Weißen befehligte. Erst als dieser geschlagen war, und das war etwa um die Zeit, als PILSUDSKI Kiew nahm, hatte man wieder Kräfte zur Verfügung, um die wild gewordenen Polen zu zügeln.

Im Gegensatz zu den Weißen, die wäh­rend des Bürger­kriegs von den West­alliierten mit Waffen und Hilfsgütern un­terstützt wurden, ernährten sich die meistens zerlumpten bolschewistischen Soldaten vom Land. Ihre schärfste Waffe war zweifellos die ideologische.

Auch kennen wir ein anderes LENIN-Wort, das da lautet: »Und wir sa­gen den Polen, daß wir die Grenze, wo wir jetzt stehen, niemals über­schreiten werden!«[14]Das war zwar nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, entsprach aber der Lage im März 1920, da den Genossen das Wasser bis zum Halse stand und sie wirklich anderes zu tun hatten, als gegen War­schau Krieg zu führen. Erst als sich im August 1920, also vier Monate später, ihr improvisierter Gegenschlag über Erwarten gut machte und als es gelang, PILSUDSKIs Scharen 700 Kilometer zurückzuschlagen, verstand man sich zu dem Versuch, die Weltrevolution ein wenig zu beschleuni­gen, die nach wie vor das erklärte Ziel Moskaus war. Denn die Lage in Deutschland entsprach ja bereits, wie uns NOLTE belehrt, der Bürgerkriegssituation in den russischen Republiken.

MUSIALs Studie zeichnet die Genese und den langjährigen Verlauf der sowjetischen Rüstungsanstrengungen und Angriffsvorbereitungen ausführlich nach, wobei er vor allem die zahlreichen Störfaktoren und deren Auswirkung auf die Kriegsbereitschaft der Roten Armee untersucht. Denn »immer wieder gab es spektakuläre Rückschläge, die STALIN grundsätz­lich als vorsätzliche Sabotage und Schädlingsaktivitäten deutete«. Und da der Kremlherr seinen Generalen und Stabsoffizieren mehr und mehr zu mißtrauen begann, ließ er ab 1936 viele von ihnen aufgrund fadenschei­niger Schauprozesse beseitigen. Tausende fanden so den Tod in Gefäng­nissen oder im Gulag. Selbst vor der Ermordung TUCHATSCHEWSKIS und BLOCHERS schreckte er nicht zurück, die beide damals populär waren. Doch das änderte nichts an seinen aggressiven Planungen, sondern be­schleunigte sie sogar noch, was dazu beitrug, daß die deutsche Wehr­macht am 22. Juni 1941 ihren Gegner überraschend zu schlagen ver­mochte. Denn der war zwar bis an die Zähne bewaffnet, doch wiesen Kriegsgerät und Aufstellung der Truppe noch massive Mängel auf.[15]

Wann hätte der Kreml zugeschlagen, wirklich erst 1942?

Mit solchen Plakaten rief STALIN zum >Gro­ßen Vaterländischen Krieg< auf.

Da die Schwerindustrie mit der Umsetzung der Rüstungsaufträge für die Rote Armee nicht rechtzeitig fertig wurde, mußte der geheime Angriffs­termin wiederholt verschoben werden. MUSIAL meint, er hätte — nach Lage der Dinge — wohl kaum vor Frühjahr 1942 verwirklicht werden können, möglicherweise sogar noch später.[16] Damit erweist er der neue­ren revisionistischen Forschung auf diesem Gebiet alles andere als einen Liebesdienst, sondern hält eher der lizensierten Zeitgeschichtslehre die Stange, die Ähnliches behauptet oder am sowjetischen Angriffswillen grundsätzlich zweifelt. Ob dies Verhalten seinem neuen Arbeitgeber, dem Institut des nationalen Gedenkens in Warschau, geschuldet oder Ergebnis eigenen Forschens ist, wer weiß es? Jedenfalls, die Präventivkriegsthese, die Deutschland entlasten könnte, billigt er ihm nicht zu. Das ist zwar bedau­erlich, doch darf darüber eines nicht vergessen werden: MUSIALs Studie weist mit erfreulicher Deutlichkeit nach, daß ein sowjetischer Angriffs­akt auf Deutschland und Europa mit großer Bestimmtheit vorgesehen und bis in kleinste ausgearbeitet war. Lediglich aufgrund von Terminver­zögerungen, wie sie nun einmal in der UdSSR an der Tagesordnung wa­ren, wurde er nicht rechtzeitig fertig. Anders als HITLER dachte STALIN Verzögerungen in Kauf nehmen zu können, weil er glaubte, mit einem unmittelbaren deutschen Angriff nicht rechnen zu müssen, und weil seine Planungen im Unterschied zu den deutschen nicht von der Jahreszeit ab­hängig waren. Das gemäßigte Klima Westeuropas hätte einem Winter­krieg kein so unüberwindbares Hindernis entgegengesetzt, wie dies in Rußland der Fall war. STALIN konnte den vermeintlich richtigen Augen­blick abwarten, was er auch tat. Hätte er jedoch in der Aufbauphase nicht eine kluge Industriepolitik betrieben, indem er gro­ße Teile seiner Rüstungsindustrie vorsorglich jenseits des Urals ansiedelte, wo sie ungestört produzieren konnte, wäre dem deutschen Blitz wahrscheinlich ver­nichtende Wirkung zugekommen. Auch machte sich der Vorkriegsterror für STALIN insofern bezahlt, als Parteiapparat und Sowjetvolk ihm im Krieg wider­spruchslos Folge leisteten. Das versetzte ihn in die Lage, den großen >Vaterländischen Krieg< zu einem siegreichen Ende zu führen.

Als wichtig bleibt festzuhalten, daß das Angriffs­konzept TUCHATSCHEWSKIS nicht nur STALINS volle Billigung und Unterstützung besaß, sondern in sei­nem Auftrag von Jahr zu Jahr fortgeschrieben wurde. Die letzte Fassung, die Marschall SCHUKOW im Mai 1941 bearbeitet hat, wurde erst wenige Jahre vor der Wende wiederentdeckt, was unter unseren Zeithistorikern erheblichen Wirbel hervorrief. Be­sonderes Aufsehen kam der darin enthaltenen Leit­linie zu, nach der die Rote Armee jederzeit zum Angriff auf das Reich befähigt sein müsse, um einem denkbaren deut­schen Angriff zuvorkommen zu können.

Da es erklärtes Ziel der sowjetischen Außenpolitik war, die kommuni­stische Herrschaft in Europa und der Welt, wenn nötig, mit Waffengewalt zu errichten, ist kaum nachzuvollziehen, warum der deutschen Wehr­macht nicht das »Präveniere im weiteren Sinne« zugebilligt werden sollte. Ihre ungenaue Kenntnis über den Umfang der sowjetischen Rüstung dürfte dabei, entgegen MUSIALs Meinung,[17] keine Rolle spielen. Denn an­gesichts der massiven Bedrohung durch den gigantischen Aufmarsch der Roten Armee an Deutschlands Ostgrenze erscheint ein befreiender Mili­tärschlag wie der vom 22. Juni 1941 vollauf gerechtfertigt. Ihm kommt damit, anders als demjenigen PILSUDSKIs vom 25. April 1920, durchaus der Charakter einer Präventiv-Handlung zu.[18] Und dieser Militärschlag war auch nicht, wie MUSIAL annimmt,[19] von langer Hand vorbereitet, viel­mehr erhielt er den entscheidenden Impuls aufgrund der zutage getrete­nen ernsthaften Differenzen beim Besuch des Außenkommissars MOLO­TOW am 12. November 1941 in Berlin.

Wie wir alle wissen, sind in neuerer Zeit von bekannter Seite derglei­chen Präventivaktionen wiederholt praktiziert worden, ohne daß die Welt ihre Stimme erhoben hätte.[20] Wenn zwei das Gleiche tun usw. — die alte Geschichte.

Andreas Naumann

Faksimile des kurz vor der Wende wiederentdeckten SCHUKOW-Plans.

[1] Bogdan MUSIAL, Kampfplatz Deutschland, Propyläen, Berlin 2008, S. 114 f.

[2] Ebenda, S. 38.

[3] Ernst NOLTE, Der europäische Bürgerkrieg, Propyläen, Frankfurt/M. 1989, S. 95 ff.

[4] LENINS Rede v. 22. 9. 1920.

[5] MUSIAL, aaO. (Anm. 1), S. 50.

[6] LENINS Rede v. 2. 10. 1920.

[7] Prawda Nr. 56, 15. 3. 1923; MUSIAL, aaO. (Anm. 1), S. 60.

[8] MUSIAL, ebenda, S. 61.

[9] Ebenda, S. 302 ff.

[10] Ebenda, S. 313 ff.

[11] Vgl. dazu auch Viktor SUWOROW, Der Eisbrecher, Klett Cotta, Stuttgart 1989, S. 231.

[12] MUSIAL, aaO. (Anm 1), S. 34.

[13] Ebenda, S. 457.

[14] LENINs Referat auf dem 1. Gesamtrussischen Kongreß v. 1. 3. 1920.

[15] MUSIAL, aaO. (Anm. 1): LENINS Referat auf dem 1. Gesamtrussischen Kongreß v. 1. 3. 1920.

[16] MUSIAL, ebenda, S. 451 ff.

[17] Ebenda, S. 456.

[18] Bogdan MUSIAL ist allerdings gegenteiliger Meinung, siehe in: ebenda, S. 456.

[19] Ebenda, S. 461.

[20] Vgl dazu auch: Andreas NAUMANN, Freispruch für die Deutsche Wehrmacht, Grabert, Tübingen 2005, S. 32 ff.

Quelle: Der Große Wendig 4, Nr. 744 (Download)

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