Corona-Debatte: Deutschland ist nicht „der“ Wissenschaft gefolgt
Der Corona-Bußgeldkatalog zeigt, wie absurd die Corona-Politik war. Bis zu 5000 Euro für die Durchführung eines Aufgusses in einer Trockensauna. Eine wissenschaftliche Rekonstruktion.
Peter Wiedemann, 05.01.2023 | 14:17 Uhr

Im Frühjahr 2020 erschien die Habilitationsschrift des Jura-Professors Tristan Barczak über den „Nervösen Staat“, abseits medialer Aufmerksamkeit. Der Staat, so die These von Barczak, ist nervös, weil er sich zu einem Vorsorgestaat entwickelt habe. In diesem müssen Gefahren erkannt und abgewehrt werden, bevor sie sich überhaupt zu solchen entwickeln können. Die Folge: Der Staat gerät in einen permanenten Ausnahmezustand. Er muss ständig in Alarmbereitschaft sein, um bereits erste Anzeichen kommender Katastrophen zu erkennen. Dass es dabei zu überschießenden Reaktionen kommen kann, auch zu systematischen Fehlern, ist offensichtlich. In welche Entscheidungsfallen die Politik bei der Umstellung auf den Ausnahmezustand der Corona-Pandemie getappt ist, soll im Weiteren skizziert werden.
Wie alles anfing: Noch Anfang März 2020 warnte der damalige Bundesaußenminister Heiko Maas, SPD-Mitglied, vor Corona-bezogenen Grenzschließungen. Auch für Grüne, CDU und Liberale war die Abschottung der Grenzen – zunächst – keine Option. Unisono wurde massiver Schaden und Rückfall in nationale Kleinstaaterei befürchtet. Ähnliche Vorbehalte galten für das Tragen von Gesichtsmasken. In der Cosmo-Studie, einem Gemeinschaftsprojekt der Universität Erfurt mit dem Robert-Koch-Institut und anderen akademischen Schwergewichten, wurde das Tragen von Gesichtsmasken noch Anfang März 2020 als unwirksamer und unerwünschter Aktionismus angesehen.
Karl Lauterbach: der Master of Disaster
Zwei Wochen später jedoch waren solche Zurückhaltungen Makulatur. Ab dem 22. März 2020 war es untersagt, sich mit mehr als zwei Personen in der Öffentlichkeit zu treffen. Das galt auch für Kinder. Die Corona-Politik, die für die nächsten zwei Jahre galt, orientierte sich am schlimmsten anzunehmenden Fall. Der spätere Gesundheitsminister und damalige stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Karl Lauterbach, übernahm die Rolle des Master of Disaster, zuerst in Talk-Shows, später auch in der Bundespressekonferenz und immer wieder auf Twitter.
Politik propagierte, dass sie in der Pandemie der Wissenschaft folgen würde. Allerdings war das nur bedingt der Fall. Denn die Politik verfolgte ihre eigene Agenda: Es ging ihr um vorsorglichen Alarmismus. Der Trick, um dennoch behaupten zu können, man folge der Wissenschaft, war simpel: Politik reduzierte die Wissenschaft auf diejenigen Wissenschaftler, die ihr für die Mobilmachung gegen das Virus brauchbar erschienen. Pointiert ausgedrückt: Dem Slogan „Following the Science“ ging zunächst immer die eigene Entscheidung voraus, welche Wissenschaftler die Leitwölfe sein sollten – von einer Ergebnisoffenheit der Politik, die „der“ Wissenschaft folgt, konnte also von Beginn an keine Rede sein.
Eine Orientierung am Worst-Case-Szenario
Die Pandemiepolitik war auch von einem besonderen Stil des Entscheidens geprägt. Entscheidungen wurden vorzugsweise defensiv getroffen. Das bedeutet, sich immer für diejenige Option der Pandemiebekämpfung zu entscheiden, die für den Entscheidungsträger den Vorwurf unterlassener oder unzureichender Gefahrenabwehr ausschaltet. Eine Orientierung am Worst Case war unter diesem Aspekt immer von Vorteil.
Denn Politik hatte gelernt. Galt noch zu Zeiten der Chemieunfälle an Rhein (Ciba-Geigy, 1986) und Main (Höchst, 1993) sowie in der BSE-Krise zu Beginn der 2000er-Jahre als amtliche Standardaussage, dass zu keiner Zeit eine Gefahr für die Bevölkerung bestand, so war jetzt das Risiko immer präsent. Nun war geboten, dem Team Vorsicht anzugehören; und das hatte klare Vorteile. Nach Eintreten des Ernstfalls wäre jeder Vorwurf, Politik hätte versäumt, strikt zu handeln, ins Leere gelaufen. Denn Politik hatte ja gewarnt, dass ein Desaster drohe. Blieb die Katastrophe aus, dann lag das an der vorausschauenden Vorsorgepolitik. Somit war es egal, wie sich die Lage entwickelt hätte, die defensive Entscheidungsfindung würde immer die gewünschten Ergebnisse erbracht haben.
Das Team Vorsicht braucht natürlich auch Absicherungen. Deshalb waren die modellbasierten Worst-Case-Szenarien, wie die über die zu erwartenden Todesfälle in der Corona-Pandemie, von Nutzen. Das Ausleuchten der dunklen Zukunft mittels geeigneter Computermodelle rechtfertigte fast jede Maßnahme zum Eindämmen der Pandemie. Wie penibel die Regelungsdichte war, zeigt der Corona-Bußgeldkatalog für Berlin vom 20.11.2020: 500 bis 5000 Euro für die Durchführung eines Aufgusses in einer Trockensauna und 250 bis 5000 Euro für die Inanspruchnahme gesichtsnaher sexueller Dienstleistungen. Der Umstand, dass Pandemiemodelle Konjunktivkonstruktionen sind, geriet schnell aus den Augen. Der Politik- und auch der Verwaltungsbürokratie galten sie vielmehr als realitätsgenaue Landkarten, die Wege aus dem Corona-Labyrinth aufzeigen.
Einen Expertenrat gab es erst spät
Neben der mathematischen Modellierung schätzte die Politik und Verwaltungsbürokratie insbesondere die Virenexpertise. Eine Laborwissenschaft, die bislang in der Medizin eine eher untergeordnete Rolle spielte, stand plötzlich im Rampenlicht. Das bedeutete aber auch, dass Erfahrungswissen, wie gegen Infektionskrankheiten praktisch vorgegangen werden kann, kaum Aufmerksamkeit fand. Die Stellungnahmen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften für Hygiene wie der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), der Gesellschaft für Hygiene, Umwelt und Präventivmedizin (GHUP) sowie der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM) spielten für die deutsche Pandemiepolitik keine Rolle.

Mutmaßlich glaubten Politik und staatliche Verwaltung, dass der Krieg gegen das Virus eben hoch spezialisiertes Fachwissen benötige, das von einer Sache – nämlich dem Virus – fast alles weiß. Politik orientiert sich somit an einigen Protagonisten einer Mikroskop-Wissenschaft, wo eigentlich eine breit gefächerte Public-Health-Perspektive nötig gewesen wäre. Erst am 14. Dezember 2021 hat die Bundespolitik diesen Fehler mit der Berufung eines Expertenrates korrigiert.
Der Ausschluss von Christoph Lütge war problematisch
Das heißt aber auch, dass bis zu diesem Zeitpunkt von der Politik hingenommen wurde, dass die Expertise, auf die sie sich verließ, von vielem nichts wusste. Der Psychologe Philip E. Tetlock hat aufgezeigt, welche gravierenden Nachteile eine solche Tunnelblick-Expertise für die Politikberatung mit sich bringt. Denn die besseren Prognosen liefern die Experten, die von allem etwas wissen; verglichen mit den Experten, die von einem fast alles wissen. Tetlock vermochte zudem zu zeigen, dass die Tunnelblick-Expertise oft in Sackgassen führt.
Denn solche Experten sind zumeist zu selbstgewiss. Verstärkt wird deren fatale Selbstüberschätzung durch einen sozialpsychologischen Effekt, den Janis (1972) als Groupthink charakterisiert hat. Am Beispiel der von der amerikanischen Politik im April 1961 initiierten Invasion kubanischer Exilanten zum Sturz von Fidel Castro konnte Janis aufzeigen, welche sozialpsychologischen Merkmale zum Festhalten an einer Politik führen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nur scheitern kann. Es ist vor allem der Konformitätsdruck, der eine fatale Wirkung entfaltet.
Eine Beratergruppe, die so zusammengestellt wird, dass ihre Mitglieder unisono eine Meinung vertreten, und die auf ein großes, von allen geteiltes Ziel hinarbeitet, verstärkt wechselseitig ihr Streben nach Einmütigkeit. Abweichungen werden nicht geduldet und Andersdenkende ausgeschlossen. In der Corona-Krise steht dafür der Fall des Philosophen und Wirtschaftsinformatikers Christoph Lütge, der im Februar 2021 aus dem Bayerischen Ethikrat ausgeschlossen wurde. Ein weiteres Beispiel ist die Abberufung Friedrich Pürners von seinem Amt als Leiter des Gesundheitsamtes in Aichach-Friedberg. Beide hatten Kritik an den Corona-Maßnahmen der bayerischen Staatsregierung geübt.
Es hätte einer Risiko-Risiko-Abwägung bedurft
Eine erhebliche Schlagseite bekam die Corona-Politik zudem dadurch, dass die ihr zugrunde liegende Entscheidungslogik völlig einseitig war. Wer nur danach strebt, das Risiko einer Covid-19-Erkrankung bzw. -Epidemie zu minimieren, bei einer Null-Covid-Strategie gar zu verhindern, und dabei übersieht, dass die gewählten Präventionsmaßnahmen auch negative Folgen haben können, schafft nicht nur Sicherheit.
Der Soziologe Niklas Luhmann illustrierte diese Problematik mit seinem berühmten Beispiel vom Regenschirm: „Wenn es Regenschirme gibt, kann man nicht mehr risikofrei leben: Die Gefahr, dass man durch Regen nass wird, wird zum Risiko, das man eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn irgendwo liegen zu lassen.“ Doch das herrschende Corona-Narrativ hatte keinen Blick für eine solche Risiko-Risiko-Abwägung.
Darüber hinaus spielten bei Pandemie-Entscheidungen diejenigen Studien eine besondere Rolle, die den Katastrophenmodus bestätigten. Befunde aus der Wissenschaft, die dagegen sprachen, wurden eher ignoriert oder abgewertet, wenn nicht sogar diskreditiert. Die für einen harten Pandemiekurs einstehenden Wissenschaftsaktivisten agierten hierbei mit besonderem Eifer. Dabei neigen sie zu einem altbekannten Urteilsfehler, den der Psychologe Michael J. Mahoney schon vor circa 50 Jahren im Wissenschaftsbetrieb nachgewiesen hat. Eine Studie wird von denen, denen das Resultat passt, bezüglich ihrer wissenschaftlichen Qualität positiv bewertet. Von denen, denen das Resultat nicht passt, wird die gleiche Studie negativ bewertet. Merke: Hochwertige Wissenschaft ist vorzugsweise jene, die einen erwünschten Befund erbringt.
Ein Rückfall in autoritäre Gesten
Kein Wunder, dass die staatliche Pandemiekommunikation ein ausgesprochenes Debakel war. Alle Standards guter Risikokommunikation wurden verfehlt. Die an die Öffentlichkeit gerichtete Kommunikation war – und ist es teilweise noch immer – ein Rückfall in autoritäre Gesten, in eine paternalistische, mit dem Zeigefinger drohende Ansprache, die auf Angst und Ressentiments setzt. Flankiert vom Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft – so hatte Hermann Lübbe 1987 das Moralisieren politischer Positionen auf den Punkt gebracht – verschärfte sich die Tonlage in der Öffentlichkeit. In der Impfdebatte Anfang 2022 hieß Freiheit nun Einsicht in die Notwendigkeit. So jedenfalls Gesundheitsminister Lauterbach, der sich damit fälschlicherweise auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel berief.
Es schien ganz klar: Die moralisch höhere Sache gebot es, Grundrechte außer Kraft zu setzen, wenn sie mit moralisch höheren Zielen kollidieren. Denn für die Moral gibt es nur das Gute und das Böse, und keine Kompromisse. An die Stelle der Auseinandersetzung mit den Argumenten der Skeptiker, die die Einsicht in die Notwendigkeit nicht teilen, tritt deren moralische Aburteilung. Corona-Politik wurde so zur Frage der richtigen Gesinnung. Genauso hatte der Philosoph Lübbe die Gefahren des politischen Moralismus beschrieben und davor gewarnt.
Die Freiheit der Person ist unverletzlich
Statt bei Meinungsdifferenzen auf Diskurs zu setzen, wurden die Positionen Andersdenkender diffamiert, indem ihnen unterstellt wurde, dass sie auf der Seite der Menschenfeinde und Querdenker stünden. Das Strategiepapier des Bundesministeriums des Inneren zum Umgang mit dem Coronavirus – nur für den internen Gebrauch gedacht – gab die Richtung vor. Es sollten Schockwirkungen erzielt werden. Ein Dagegenhalten war riskant. Verdächtigungen entwickelten sich zur Normalform: Journalisten übten sich als Inquisitoren. Für andere gab es die Tyrannei der Ungeimpften. Ähnlich problematische Einlassungen seitens der Medien ließen sich ebenfalls bei anderen Themen beobachten: beim Umgang mit Virologen, die nicht auf Regierungslinie lagen, hinsichtlich der Unbekümmertheit gegenüber der katastrophalen Datenlage zur Pandemie sowie bezüglich der Effektivität der Lockdown-Maßnahmen.
In der Pandemie ging es außerdem nicht mehr um Aufklärung und nicht um die Unterstützung von informierten Entscheidungen. Die Bevölkerung wurde nicht mehr angesprochen, um sie zu befähigen, Corona-Risiken richtig einzuschätzen und, entsprechend ihrer eigenen Werte, vorsorglich zu handeln. Das Ziel der Kommunikation war die Verhaltenssteuerung der Bevölkerung. Propaganda und Pathos dominierten die öffentlichen Medien. Mit missionarischem Eifer wurden Angstbotschaften massiv kommuniziert, um Menschen auf Linie zu bringen. Wer nicht mitmachte, war unsolidarisch und gehörte damit schon ins Reich des Bösen, das mit AfD, Querdenkern und Reichsbürgern auch eine politische Richtung zugewiesen bekam, deren Ablehnung als selbstverständliche Norm galt und gilt. Natürlich können niemandem, der so kommunizierte, böse Absichten unterstellt werden. Doch selbst eine Kommunikation mit guten Absichten kann fatale Folgen haben.
Und damit zurück zum nervösen Staat. Es sei daran erinnert, dass es in Absatz 2 des 2. Artikels unseres Grundgesetzes nicht nur heißt, dass jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat. Sondern unmittelbar danach steht auch geschrieben: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Und weiter heißt es: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Genau hier ist der Hebel anzusetzen. Überzogene Gefahrenabwehr verursacht selbst Gefahren. Deswegen gilt es, gerade bei der Pandemiebekämpfung, mit besonnener Vorsicht zu agieren. Überbordende Vorsorge ist ein Fehler.
ZUM AUTOR
Professor Dr. habil. Peter M. Wiedemann, Diplom-Psychologe, promovierte an der TU Berlin und habilitierte sich in Innsbruck. Seit 2014 ist er im Ruhestand. Zuvor war Peter Wiedemann Sprecher des Wissenschaftsforums EMF in Berlin. Er leitete 1993 bis 2014 die Programmgruppe „Mensch, Umwelt und Technik“ am Forschungszentrum Jülich in Deutschland. Von 2014 bis 2020 forschte er als Honorarprofessor an der University of Wollongong in Australien. Peter Wiedemann lehrte bis 2019 an der Universität Innsbruck. Derzeit ist er außerordentlicher Professor an der Fakultät für Medizin, Krankenpflege und Gesundheitswissenschaften der Monash University in Melbourne. Peter Wiedemann hat mehr als 240 Beiträge in Fachzeitschriften veröffentlicht. Seine wissenschaftlichen Interessen gelten der Risikokommunikation, der Kommunikation von Evidenzbewertung und der Bewertung unsicherer Risiken.
