Analyse der Sterberaten
Krebs ist vielleicht die in der westlichen Welt meistgefürchtete Krankheit (Colborn u.a. 1998: 218). So überrascht es nicht, daß sie von vielen Mythen umwoben ist. Der verbreitetste Mythos ist der einer Krebsepidemie.
Das Problem mit der Krebsdebatte liegt darin, daß man ganz leicht irgendwelche Zahlen herausgreifen kann, die alarmierend klingen. In Abbildung 117 sehen wir verschiedene Möglichkeiten, die amerikanische Krebssterbeziffer zu beschreiben. Wir könnten zunächst einmal die Gesamtzahl der Gestorbenen betrachten — 1950 sind in den USA etwa 211.000 Menschen an den verschiedensten Krebsarten gestorben, 1998 mehr als 540.000. Ein Anstieg um über 150 Prozent. Aber die US-Bevölkerung hat natürlich im gleichen Zeitraum auch drastisch zugenommenti — und wenn sich die Bevölkerungszahl verdoppelt, müssen wir naturgemäß die doppelte Anzahl von Krebstoten erwarten, ohne daß dies irgendwie ein Alarmzeichen wäre.
Das Krebsproblem kommt also zutreffender in einer Quote zum Ausdruck, normalerweise in der Zahl der Krebstoten pro 100.000.

In Abbildung I können wir sehen, daß diese Rate von 140 im Jahre 1950 auf heute 200 angestiegen ist. 1998 kommen also auf 100.000 Einwohner 60 Krebstote mehr als 1950. Ein Anstieg der Krebshäufigkeit um 43 Prozent.
Wenn wir bis 1900 zurückgehen, sehen wir nur 64 von 100.000 Menschen an Krebs sterben, so daß wir heute alljährlich 136 Todesfälle mehr pro 100.000 verzeichnen — ein Anstieg von 213 Prozent (USBC 1975: I, 58). Bevor wir daraus den Schluß ziehen, daß uns das -20. Jahrhundert eine Krebsexplosion beschert hat, müssen wir allerdings in Rechnung stellen, was in diesem Zeitraum sonst noch geschehen ist.
Krebs ist fast ausschließlich eine Alterskrankheit. Das Krebsrisiko liegt in den ersten 25 Lebensjahren ganz grob bei 4 (von 100.000). In den nächsten zehn Lebensjahren wird es sich ungefähr verdreifachen, so daß die Sterberate bei 12 liegt. Alle zehn Lebensjahre wird sie sich dann weiter in etwa verdreifachen, so daß sie um das fünfzigste Lebensjahr bei 400 liegt und in den folgenden 20 Jahren noch einmal um das Dreifache auf 1.350 steigt (HHS 1997: 136). Wenn die Bevölkerung altert, wird sie also häufiger an Krebs sterben. Das ist alles andere als erstaunlich. Um 1900 starben junge Menschen an Tuberkulose, Grippe, Lungenentzündung und anderen Infektionskrankheiten (siehe Abb. 20). Heute werden wir eben deshalb viel älter, weil wir nicht mehr an diesen Infektionen sterben. Und weil wir früher oder später an irgendetwas sterben müssen, sterben wir eben häufiger an Herzkrankheit oder an Krebs. Im Jahre 1900 lag das Durchschnittsalter in den USA bei 26 Jahren, 1998 bei 36 Jahren.
Wenn also die Bevölkerung altert, müssen häufigere Krebserkrankungen nicht zwangsläufig auf ein höheres Risiko hindeuten. Sie können sich einfach daraus ergeben, daß mehr Menschen die Infektionskrankheiten überlebt haben und in stärker krebsgefährdete Altersgruppen gelangt sind. Die Krebsziffern werden deshalb nach Alter gestaffelt — indem man fragt, wie die Quote aussehen würde, wenn die Altersstruktur in der Bevölkerung unverändert geblieben wäre. Normalerweise wird ein bestimmter Standard zugrundegelegt, etwa die US-Bevölkerung von 1970 oder die Weltbevölkerung (was den Vergleich zwischen verschiedenen Ländern erleichtert). In Abbildung 117 sehen wir die altersstandardisierte Krebsziffer, d.h. diejenige Quote, die die USA in dem angegebenen Zeitraum gehabt hätten, wenn die Bevölkerungsstruktur der für die Welt typischen Altersstruktur geglichen hätte. Hier erkennen wir nur eine leichte Zunahme der altersstandardisierten Krebsziffer, die von 125 auf 136 im Jahre 1983 ansteigt und für 1998 auf 126 zurückgeht. Das entspricht einem Anstieg von 9 Prozent und mittlerweile nur 1 Prozent. Natürlich bedeutet das nach wie vor eine Zunahme — altersstandardisiert sind es immer noch 1 Prozent mehr Menschen, die alljährlich an Krebs sterben.
Die überwiegende Ursache für diesen Anstieg der altersstandardisierten Krebs-Sterbeziffern ist jedoch eine rapide Zunahme von Lungenkrebs, der bekanntermaßen fast ausschließlich durch übermäßiges Rauchen zustandekommt (Peto u.a. 1992). Die WHO hat die Krebsziffern für Nichtraucher herangezogen, um festzustellen, wie viele Fälle von Lungenkrebs und anderen Krebsarten auf Zigarettenkonsum zurückzuführen sind. Der weitaus größte Teil der Lungenkrebserkrankungen (etwa 91 Prozent) ist heutzutage dem Rauchen geschuldet (Peto u.a. 1994: 535), und die dadurch bedingten Lungenkrebsfälle machen rund 70 Prozent sämtlicher Raucherkrebsfälle aus. Wenn wir nun die altersstandardisierten Krebsziffern heranziehen und diejenigen Fälle .ausklammern, die auf Rauchen zurückzuführen sind, erhalten wir eine Krebsziffer, die sowohl um das Altern der Bevölkerung als auch um frühere Zigaretten-Konsumgewohnheiten bereinigt ist. Diese letztendliche Quote ist in Abbildung I zu sehen. Sie zeigt, wie die amerikanische Krebsziffer aussieht, wenn die Bevölkerung weder altern noch rauchen würde. Das Resultat ist ein deutliches Absinken der krebsbedingten Mortalität, die von 1950 bis 1998 um fast 30 Prozent zurückgegangen ist.
Gleichzeitig sterben wir weniger häufig aus anderen Gründen (insbesondere Gefäßerkrankungen). Deshalb steigt auch die Lebenserwartung. In den USA ging das altersstandardisierte Risiko, an irgendetwas anderem als an Krebs zu sterben, von 1955 bis 1995 bei Männern um 40 und bei Frauen um 45 Prozent zurück (Peto u.a. 1994: 532f). Für die gesamten Industrieländer lag der Rückgang der nicht-krebsbedingten Sterbeziffern für Männer bei 37 und für Frauen bei 47 Prozent.
Alles in allem zeigen also die Fakten durchgängig, daß Nichtraucher ein zunehmend geringeres Risiko haben, an Krebs oder anderen Krankheiten zu sterben. Das ist keine wirkliche Krebsepidemie.
aus: Bjorn Lomborg, Apocalypse: No! Wie sich die menschlichen Lebensgrundlagen wirklich entwickeln. Lüneburg 2002